Andrzej Duda in Torun nach dem Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahl.

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Bei einem Warschauer Besuch im Sommer 1980 stellte der aus Breslau gebürtige bedeutende amerikanische Historiker Fritz Stern (1926–2016) Mieczysław Rakowski, dem reformkommunistischen Publizisten und späteren Ministerpräsidenten Polens, folgende Frage: "Rousseau hat einmal gesagt, die Polen würden die Welt eines Tages noch einmal in Erstaunen versetzen. Wann wird das geschehen?" Rakowski antwortete: "Nicht in diesem Monat, nicht in diesem Jahr, aber in diesem Jahrzehnt." Das Wunder – der Danziger Arbeiteraufstand mit dem Anführer Lech Wałęsa – geschah nur zwei Wochen später! Diese Geschichte erzählt Fritz Stern in seinen Erinnerungen ("Fünf Deutschland und ein Leben", 2007) und fügt hinzu, er habe die Quelle des aus dem Gedächtnis zitierten Rousseau-Zitats nicht finden können ...

Wie dem auch sei, das Resultat der ersten Runde der Präsidentenwahl am Sonntag bestätigt wieder einmal die Treffsicherheit dieses Zitats: Die Polen versetzen die Welt wiederholt in Erstaunen. So geschah es auch 2015, als nach einem trotz globaler Krisen europaweit bewunderten wirtschaftlichen Wachstum sowohl die Regierung der liberalen Bürgerplattform wie auch der von ihr gestellte Staatspräsident abgewählt wurden. Der starke Mann der mit absoluter Mehrheit regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, hatte durch groß angelegte Sozialleistungen – 115 Euro Kindergeld monatlich, Reduzierung des Rentenalters, Steuererleichterungen – große Gewinne erzielt. Zugleich versuchte dieser "von nationalem Sendungsbewusstsein beseelte Fanatiker" (so der Politologe Sławomir Sierakowski) durch die Demontage des Rechtsstaates und die Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Medien eine beispiellose Machtkonzentration für seine Partei zu erreichen. Bei den Konflikten mit der EU und bei den illiberalen innenpolitischen Weichenstellungen erwies sich der von Kaczyński "erfundene" Staatspräsident Andrzej Duda als seine verlässliche Marionette.

Strippenzieher Kaczyński, der formell kein Amt innehat und für den Pragmatismus als ein Zeichen der Schwäche gilt, hatte trotz der Corona-Krise versucht, die Präsidentenwahl am ursprünglich festgelegten Termin am 10. Mai durchzusetzen. Nach chaotischen Verhältnissen und Spaltungstendenzen im Regierungslager musste er der Verschiebung auf den 28. Juni zustimmen. Seine Furcht vor der Verschlechterung der Chancen des farblosen Amtsinhabers war berechtigt. In Polen gehen die Änderungen in der Politik immer sehr schnell. Auch diesmal entstand in einigen Wochen ein chancenreicher Herausforderer in der Person des populären liberalen Warschauer Bürgermeisters Rafał Trzaskowski.

Präsident Andrzej Duda, der im Frühjahr in den Umfragen noch bei 60 Prozent lag, muss in zwei Wochen in die Stichwahl. Trotz seines Vorsprunges von elf Prozent über Trzaskowski ist sein Sieg keineswegs sicher. Werden die Polen die Welt wieder "in Erstaunen versetzen"?

Gestern herrschte die Kaczyński-Partei ungefährdet. Heute ist alles offen. Die erste Runde der Präsidentenwahl bedeutet einen Hoffnungsschimmer für die liberale Demokratie, in Polen und auch in Europa – nicht mehr, aber auch nicht weniger. (Paul Lendvai, 30.6.2020)