Mit oder ohne Corona: Europas Bevölkerungen werden immer älter und kleiner. Aber, so Wolfgang Lutz, auch immer produktiver und besser gebildet.

Foto: Corn

Wer sich mit globaler Bevölkerungsentwicklung beschäftigt, kommt an Wolfgang Lutz nicht vorbei. In zahlreichen Arbeiten, unter anderem im Auftrag der EU und der Vereinten Nationen, hat der vielfach ausgezeichnete Demograf gezeigt: Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung des Planeten liegt in der Bildung, insbesondere der Frauen. Im Gespräch geht er auf aktuelle Entwicklungen und jüngste Forschungsergebnisse ein.

STANDARD: Wird das Coronavirus Spuren in den Bevölkerungsstatistiken hinterlassen?

Lutz: In Österreich vermutlich nicht, in anderen Ländern schon. Es hängt von der Prävalenz ab, also dem Anteil der infizierten Bevölkerung, inwieweit die Lebenserwartung beeinflusst wird. Wenn es bei uns keine massive zweite Welle gibt und die Prävalenz weiterhin unter einem Prozent liegt – im Moment liegen die Schätzungen bei unter einem halben Prozent –, wird man nicht einmal einen kleinen Knick sehen in der sonst ansteigenden Kurve der Lebenserwartung. In Ländern wie Belgien, dem Land mit den meisten Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl in Europa und einer höheren Prävalenz, wird die Lebenserwartung wahrscheinlich um ein bis zwei Jahre sinken.

Zu einem Teil handelt es sich um vorgezogene Todesfälle, da wohl viele ältere Menschen in den nächsten Jahren auch ohne die Pandemie gestorben wären. Nach einem Einbruch könnte die Lebenserwartung also wieder schneller steigen. An der Fortschreibung des Trends, dass ein heute geborenes Kind im Schnitt 100 Jahre zu leben hat, wird Corona vermutlich nichts ändern. Dazu kommt, dass in Reaktion auf die Krise das medizinische System gestärkt werden könnte, mehr geimpft wird und die Menschen gesünder sind.

STANDARD: Covid-19 wird ja immer wieder in Relation gesetzt mit Influenza, Tuberkulose und anderen tödlichen Krankheiten. Wie ordnen Sie die Pandemie ein?

Lutz: Wissenschafter, die sich mit den großen Risiken für die Menschheit beschäftigen, haben unter dem Begriff "Pandemic Influenza" immer ein Schreckensszenario gezeichnet. Vorstellbar ist ein Virus, das noch leichter über tragen wird als Sars-CoV-2 oder noch länger vor dem Auftreten von Symptomen ansteckend ist – wenn es dann noch so tödlich ist wie Ebola, könnte es Menschen in Massen dahinraffen. Wir haben so gesehen noch Glück gehabt, dass Sars-CoV-2 nicht so schlimm ist. Wir müssen auf der Lauer liegen. Das Melde- und Überwachungssystem wird verbessert werden müssen. Ein ebenso gefährliches Szenario betrifft Antibiotikaresistenzen. Wenn Keime, gegen die keine Antibiotika mehr helfen, überhandnehmen, sind wir auf einem Stand wie vor dem Zweiten Weltkrieg – man könnte an einfachsten Entzündungen sterben.

STANDARD: Vor Corona war Migration das hervorstechendste Thema, wenn es um Demografie ging. Inwieweit wird sich die Pandemie auf Migrationsströme auswirken?

Lutz: Viele Migranten sind vor dem Lockdown in ihre Heimat zurückgekehrt. Von den Serben zum Beispiel, die in ganz Europa leben, sind im März rund 400.000 zurückgegangen. Ob sie bleiben, wird auch davon abhängen, inwieweit die Politik Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Land bietet und Remote Working möglich ist. Was die Zuwanderung aus afrikanischen und arabischen Ländern betrifft, erwarte ich in nächster Zeit weniger Migration. Die Angst, das Verderben in Form eines Virus aus dem Ausland hereinzulassen, wird sicher stärker.

STANDARD: Während die westeuropäischen Länder mit Zuwanderung hadern, hat Osteuropa ein Problem mit Abwanderung. Das führt zu einigen Verschiebungen in Europa. Rumänien etwa könnte bis 2060 rund 30 Prozent seiner Bevölkerung verlieren, so die Prognosen. Was bedeutet das für die zukünftige Entwicklung Europas?

Lutz: Für die betreffenden Länder ist das ein großes Problem. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić, den ich in einer eigens eingerichteten Taskforce zum Thema berate, spricht von Depopulation, also Entvölkerung. Dass es zu wenige Serben geben könnte, ist für ihn als Nationalisten ein vordringliches politisches Thema. Dabei unterscheiden sich die Geburtenraten in Osteuropa nicht sehr von denen im Westen. Grund für den Bevölkerungsschwund ist die zum Teil massive Auswanderung, in erster Linie der besser gebildeten, weltoffeneren und dynamischeren Menschen. Dadurch verbessert sich auch nur sehr wenig in den Balkanländern, es fehlt der Veränderungsdruck.

STANDARD: Kürzlich haben Sie und Ihre Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der Sie zeigen, dass mehr Einwanderung nicht unbedingt das Allheilmittel ist, um die negativen Auswirkungen einer alternden Gesellschaft auf die Sozialsysteme auszugleichen. Vielmehr müssten mehr Menschen, egal ob Migrant oder nicht, in den Arbeitsmarkt integriert werden. Was bedeutet das?

Lutz: Die gängige Meinung lautet: Uns fehlen in Europa aufgrund sinkender Geburtenraten die Leute, also brauchen wir mehr Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben nun unterschiedliche Szenarien durchgerechnet, wie sich die europäische Bevölkerung entwickeln könnte. Das Ergebnis zeigt: Wenn überall in der EU der Anteil der Erwerbstätigen so hoch ist wie in Schweden heute schon – hier kommen auf 100 Erwerbstätige 87 Nichterwerbstätige, in Österreich ist das Verhältnis 100:95 –, dann nimmt die Anzahl der Arbeitskräfte gar nicht ab, trotz des Anstiegs älterer Menschen und sinkender Geburtenraten. In Schweden liegt das also vor allem daran, dass Frauen viel stärker am Arbeitsmarkt teilnehmen bzw. länger arbeiten.

STANDARD: Was sind die wichtigsten Faktoren dafür – abgesehen davon, dass Frauen ermöglicht werden müsste, selbstverständlicher erwerbstätig zu sein?

Lutz: Entscheidend ist etwa die ökonomische Integration von Migranten. Während in konventionellen Modellen oft nur das Alter als relevantes Kriterium für die Bevölkerungsentwicklung dient, haben wir in unserer Mikrosimulation, die im Fachmagazin "PNAS" erschienen ist, erstmals 13 Charakteristika von Menschen zur Simulation der Szenarien verwendet, also etwa unterschiedliche Annahmen zur Migration, Erwerbstätigkeit und zum Grad der Bildung. Wir haben außerdem neue Produktivitätsmaßstäbe angelegt, die nicht davon ausgehen, dass alle Menschen über 65 Jahren unproduktiv sind. Wir rechnen auch damit, dass eine bessere Bildung zu höherer Produktivität führt, und junge Menschen in Zukunft besser gebildet sein werden. Das heißt, dass das potenziell wachsende Abhängigkeitsverhältnis der Nichterwerbstätigen von den Erwerbstätigen ausgeglichen werden kann, weil jene, die erwerbstätig sind, mehr leisten. Besser Gebildete arbeiten zudem eher freiwillig länger als weniger gebildete – oft, weil sie interessantere Tätigkeiten haben.

STANDARD: Es geht also darum, dass alle produktiver werden?

Lutz: Ein Ziel wäre, dass es bei einer abnehmenden Bevölkerungszahl nicht unbedingt eine wachsende gesamtwirtschaftliche Leistung gibt, aber ein zunehmendes Pro-Kopf-Einkommen. An den Bevölkerungsschwund muss man sich erst gewöhnen. Wir arbeiten gerade an einem Projekt zu den ökonomischen Konsequenzen von Bevölkerungsschrumpfung. Alle neoklassischen Modelle sind auf ständiges Wachstum ausgelegt. Aber was passiert, wenn gewisse Industriezweige, die auf Skaleneffekt angewiesen sind, schrumpfen, wurde praktisch noch nicht erforscht. So könnte das, was die wachstumskritische Degrowth-Bewegung anstrebt, von ganz alleine kommen durch die demografische Entwicklung – vielleicht sogar beschleunigt, wenn man an die möglichen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise denkt. (Karin Krichmayr, 1.7.2020)