Bild nicht mehr verfügbar.

Beten für ein langes, gesundes Leben. Mehr als 28 Prozent der Japaner sind älter als 65 Jahre – Tendenz steigend.

Foto: Reuters / Issei Kato

Eine Einkaufsmeile nur für Senioren? Im gealterten Japan kein Problem: In der Jizo-Straße im Tokioter Stadtviertel Sugamo erfreuen sich jeden Tag zahllose Pensionisten an der bunten Mischung aus Tempeln, Straßenläden, Bäckereien und Cafés mit altmodischen Waren zu niedrigen Preisen.

In vielen Auslagen leuchten rote Unterhosen: Wer sie trägt, so der verbreitete Glaube unter den Alten, erhöht seine Körpertemperatur und Durchblutung und stärkt das Herz – die Farbe Rot symbolisiert in Japan traditionell den 60. Geburtstag.

Stets dichtumlagert ist die zierliche Statue von Togenuki Jizo, einem Mönch mit kahlgeschorenem Schädel. Alte Leute säubern die kindsgroße Bronzefigur im Kogan-Tempel mit einem Handtuch und drücken es sich dann auf den Körper. Das Ritual soll Schmerzen lindern und das Leben verlängern.

Dabei gibt es in Japan schon die meisten Hundertjährigen der Welt. Die Inselnation trägt auch die Bürde der ältesten Bevölkerung. Mehr als 28 Prozent der Japaner sind älter als 65 Jahre. Das Durchschnittsalter beträgt 48,4 Jahre, fast sechs Jahre mehr als der österreichische Schnitt von 42,8 Jahren. Dafür nennt Chefdemografin Reiko Hayashi vom Nationalen Bevölkerungsinstitut drei Gründe: "Wir haben weniger Geburten als in Europa, wir leben länger, und wir haben kaum Einwanderer."

Die Geburtenrate von 1,4 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter bedeutet Platz 185 unter 208 Ländern. Die Japanerinnen halten mit einer Lebenserwartung von 87,3 Jahren den Weltrekord bei Frauen, die Männer liegen mit 81,3 Jahren an dritter Stelle. Und nur etwas mehr als zwei Prozent der Bevölkerung sind Ausländer – ein Tiefstwert unter den Industrienationen.

Platzmangel im Altersheim

Der Mikrokosmos der Familie Takaishi macht diese demografischen Daten verständlich. Großvater Masahiro Takaishi ist 84 Jahre alt, seine Frau Akiko 77. "Ich werde ihn pflegen müssen, weil es nicht genug Plätze im Altersheim gibt", sagt sie nüchtern. Das Ehepaar hat drei Kinder.

Der älteste Sohn Masaki blieb unverheiratet. Seit Jahren sucht er mithilfe von Partnervermittlern nach einer Frau, um eine Familie zu gründen. "Sie muss jung sein, damit wir ein gesundes Baby bekommen", erklärt er sein Ziel. Als einziger Sohn soll Takaki gemäß der konfuzianischen Tradition den Familiennamen erhalten und steht daher unter großem Heiratsdruck vonseiten seiner Eltern. Aber trotz einer gut bezahlten Festanstellung als Ingenieur hat der 50-Jährige keine Frau fürs Leben gefunden.

Darüber wundert sich die Demografin Hayashi kaum: "Seit der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau 1985 können die Frauen im Beruf bleiben und genug verdienen, sodass sie keinen männlichen Versorger mehr brauchen." Das Heiratsalter von Frauen stieg seitdem um vier Jahre auf 29,4 und von Männern um drei auf 31,1 Jahre. Jeder fünfte Mann und jede sechste Frau unter 50 bleiben in Japan unverheiratet. Beide Trends drücken die Geburtenrate nach unten, da nur zwei Prozent aller Kinder unehelich geboren werden.

Hohe Ausbildungskosten

Beide Töchter der Familie Takaishi haben geheiratet. Die Ältere, Yuko, verlor ihr erstes Kind und konnte nicht mehr schwanger werden. Seit sechs Jahren versucht sie es mit künstlicher Befruchtung, aber mit inzwischen 52 Jahren hat sie trotz einer Hormontherapie kaum noch Chancen. Aber ihre Anstrengung ist nicht untypisch: Ungewöhnlich hohe fünf Prozent der Babys in Japan entstehen im Reagenzglas, obwohl die Paare die Kosten selbst tragen müssen.

Die jüngere Tochter Sonoko hat einen Sohn. "Seine Geburt war so schmerzhaft, dass ich kein zweites Kind mehr wollte", gesteht die 45-Jährige. Ihre Entscheidung bereut sie nicht, die Kosten der Erziehung seien nämlich sehr hoch. An Kindergeld erhält man in Japan je nach Wohnort und Einkommen nur zwischen 40 und 125 Euro im Monat, steuerliche Freibeträge gibt es lediglich für Kinder zwischen 16 und 23.

Der Anlass sind die hohen Gebühren für private Oberschulen und Universitäten. Der inzwischen 19-jährige Sohn beginnt im April sein Studium. Die Gebühren für Paukschulen und Nachhilfeübungen zur Vorbereitung auf die nationale Aufnahmeprüfung kosteten Sonoko und ihren Mann zwei Jahre lang jeden Monat zwischen 500 und 1000 Euro.

Ringen um mehr Babys

Ein anderes Manko für potenzielle Eltern hat die konservative Regierung von Premierminister Shinzo Abe immerhin beseitigt: Sie baut seit einigen Jahren in großem Stil Kindergärten und übernimmt seit Oktober die Betreuungskosten der Drei- bis Fünfjährigen. Damit schlägt Abe gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Geburtenrate dürfte steigen, und junge Mütter können schneller wieder arbeiten gehen, um den großen Personalmangel zu lindern.

Aber selbst wenn es bald wieder mehr Babys gäbe: Aus seinem demografischen Loch kommt Japan nicht mehr heraus. Die Jahrgänge der Frauen im gebärfähigen Alter sind für eine grundlegende Wende inzwischen zu klein. Daher wird die Bevölkerung laut der Prognose des Bevölkerungsinstituts in den nächsten 20 Jahren von heute 126 Millionen auf 111 Millionen schrumpfen. Davon werden dann 40 Prozent über 65 Jahre alt sein.

Die Aussichten für das hochverschuldete Land sind also katastrophal: Immer mehr Alte belasten mit ihren Gebrechen das Gesundheitssystem. Zum Beispiel erwartet man bereits in fünf Jahren 7,3 Millionen Demenzkranke, fünf Prozent aller Japaner.

Arbeiten bis 70

Allerdings wirken diesem düsteren Szenario zwei Trends entgegen: Erstens haben die Japaner auch die längste gesunde Lebenserwartung der Welt: Diese Lebensspanne ohne körperliche und geistige Beeinträchtigungen dauert bei den Männern 72,1 und bei den Frauen 74,8 Jahre. Das sind acht bis elf Jahre mehr als in der EU. Zu den Ursachen gehören die ausgewogene Ernährungsweise und die geringe Zahl an Übergewichtigen und Fettleibigen.

Zweitens hören die Japaner schon heute erst mit 69 Jahren auf zu arbeiten, zahlen also länger Steuern und Sozialabgaben. Damit das so bleibt, müssen Unternehmen ab April 2021 jene Mitarbeiter, die über die Rentengrenze hinaus arbeiten wollen, bis zum Alter von 70 Jahren weiterbeschäftigen.

Dagegen scheint die klassische Lösung der Einwanderung nicht zu funktionieren, weil Japan keinen guten Ruf als Gastland für ausländische Arbeitskräfte genießt. Eigentlich wollte die Regierung mit dem ersten Arbeitsvisum der japanischen Geschichte im Jahr 2019 47.000 Ausländer anlocken. Doch es kamen nur 520. (Martin Fritz, 6.7.2020)

*Die Reportage entstand im März vor dem Coronavirus-Ausbruch. Japan verzeichnet derzeit 18.861 bestätigte Infektionen und 977 Tote (Stand 2.7. 2020). Der Ausnahmezustand, der allerdings ohne strikte Verbote auskam, wurde Ende Mai aufgehoben.