Ein bisschen Mondlandung: die Crew des "Impossible Row" an ihrem Ziel, der Antarktischen Halbinsel.

BrianNashel

Genau 90 Minuten lang ist Andrew Towne der einsamste Mensch der Welt. Allein mit sieben Meter hohen Wellen, prügelndem Wind und eisigem Meerwasser. Towne sitzt an Deck seines Ruderboots, das Südpolarmeer spielt mit der 8,69 Meter langen Hightech-Nussschale wie ein übermütiges Kleinkind mit einer Quietscheente. Rudern wäre bei diesem Wetter sinnlos, die Kajüten haben aber nur für fünf Mann der sechsköpfigen Crew Platz. Also muss einer draußen frieren.

"Es war stockdunkel, du siehst nicht einmal, aus welcher Richtung die Wellen auf dich brechen", sagt Towne. Fünf Minuten hält er sich an der Reling fest, dann werden die Hände zu kalt. Wenn er sie zum Aufwärmen unter die Jacke steckt, kracht er immer wieder an die Wände des Bootes. Dann wieder fünf Minuten frierendes Festhalten. Bis zum Schichtwechsel, bis ein anderer Unglücklicher in der Kajüte Platz machen muss – bis der Sturm weiterzieht, der Seeanker gelichtet wird und die Ruderei weitergeht: bis in die Antarktis.

Von Kap Hoorn zur Antarktischen Halbinsel

Vielleicht kann man von Wahnsinn sprechen, vielleicht von Vision, jedenfalls von Wagemut. "The Impossible Row" nannten Kapitän Fiann Paul, Colin O’Brady, Cameron Bellamy, Jamie Douglas-Hamilton, John Petersen und Towne ihre Expedition von der Südspitze Südamerikas zur Antarktis. Ein Höllenritt durch die Drake-Passage, eine der gefürchtetsten Meeresstraßen der Welt. Das Sextett wollte als erstes Team nur mit Muskelkraft von Kap Hoorn ins ewige Eis gelangen. Das hatte eine Expedition schon 1988 beinahe geschafft, die Crew des Abenteurers Ned Gillette hatte nahe der Küste aber ein Segel verwendet.

Davor. Von links nach rechts: John Petersen, Cameron Bellamy, Andrew Towne, Colin O'Brady, Jamie Douglas-Hamilton, Fiann Paul.
Foto: Fiann Paul

Der 39-jährige Paul hält 41 Weltrekorde im Ozeanrudern, nur das Südpolarmeer fehlte ihm zum ersten "Ocean Explorers Grand Slam", dem Durchrudern aller fünf Ozeane. Ein solches Vorhaben will organisiert sein: ein möglichst kentersicheres Ruderboot, selbst designte Ausrüstung, aus Sicherheitsgründen ein Begleitboot – und natürlich fünf weitere Wahnsinnige. Vergangenen Dezember war alles so weit.

Schichtwechsel

"Die ersten paar Tage kämpft jeder mit Seekrankheit. Ich konnte kaum etwas trinken und zwei Tage nichts essen", erzählt Douglas-Hamilton. Zwei Dreierteams wechselten sich in 90-Minuten-Schichten an den Rudern ab. "Wenn deine Schicht vorbei ist, ziehst du dich aus, trägst Hautcreme auf und versuchst zu schlafen", sagt Douglas-Hamilton. "Und gerade wenn du wegdämmerst, hörst du ein Klopfen: ‚Jamie, zehn Minuten!‘"

Ruderalltag. Die Anzüge waren von Paul designt und maßangefertigt.
BrianNashel

Pausen für die ganze Crew gab es nur, wenn ihr Boot in die Gegenwind-Seite eines starken Sturms kam. Dann fiel der Seeanker, eine Art Unterwasserfallschirm, der den Raumverlust minimiert. Und dann wurde es eng in den Kajüten: Kapitän Paul und sein Erster Offizier O’Brady teilten sich rund eineinhalb Quadratmeter im Heck des Bootes, für die anderen vier war es im Bug zu eng – so musste eben abwechselnd einer 90 Minuten draußen bleiben.

Geentert

Beinahe wäre es zu all dem Frieren gar nicht gekommen. Kurz vor dem geplanten Start marschierte das chilenische Militär an Bord des Begleitboots Braveheart und verbot dem Kapitän das Ablegen. Der Grund: Ein Militärflugzeug war auf dem Weg in die Antarktis abgestürzt. Die 38 Insassen der Lockheed C-130 Hercules wurden bald für tot erklärt, die Suche nach Flugzeugtrümmern lief länger. Chile legte eine Suchzone fest, in der sich keine Schiffe aufhalten durften – und Paul musste die lange geplante Route binnen einer halben Stunde so verändern, dass die Ruderer jener nicht in die Quere kamen.

Das Begleitboot.
Foto: Fiann Paul

Nun hat das Meer die unangenehme Angewohnheit, sich zu bewegen. Im Südpolarmeer trägt der Hauptverantwortliche dafür den fetzigen Namen Antarktischer Zirkumpolarstrom: eine der wichtigsten Strömungen der Welt, die unbegreifliche Mengen von Eiswasser im Uhrzeigersinn rund um die Antarktis trägt. Wind und Seegang sind auf offener See wichtigere Parameter als die generelle Meeresströmung, sie laufen teilweise in eine andere Richtung.

Paul kann all das mit bunten Landkarten mit vielen kleinen Pfeilen so spektakulär detailliert erklären, dass es sogar ein unbedarfter Standard-Redakteur fast versteht. Die Tendenz in der Drake-Passage ist jedoch klar: West nach Ost. Man müsste deshalb annehmen, dass das Flugzeugwrack und damit die Suchzone im Laufe der Tage gen Osten getrieben würde. Paul beschloss gegen Ratio, Wahrscheinlichkeit und erfahrene Berater: Wir weichen Richtung Osten aus.

Intuition

Fragt man den kantigen Wahlisländer, warum er so entschied, holt er zu einem Exkurs über intuitive versus sinnliche Wahrnehmung aus – kein Zufall, er studiert Tiefenpsychologie und arbeitet als Therapeut. Die Kurzfassung: Es war G’spür. Die Suchzone wanderte schließlich nach Westen. Hätte Paul logisch entschieden, wäre seinem Boot der Weg abgeschnitten worden. Die Crew der Ohana hätte womöglich mehrere Tage warten müssen und zudem einen weiteren Weg vor sich gehabt als über die östlichere Route. Das hätte der Expedition alle Chancen genommen, denn das Begleitboot war nur für eine knapp bemessene, begrenzte Zeit engagiert.

Die letzten Tage musste die Crew um Eisberge herumnavigieren.
Foto: Brian Nashel

Man könnte die Sache natürlich auch so sehen: Sechs Männer hätten sich ein gesalzenes Best-of-Schmerzen erspart. Zwölf Tage, eine Stunde und 45 Minuten ruderten sie auf hoher See, vom 13. bis zum 25. Dezember. Das hinterlässt natürlich Spuren. Die Ruderklassiker sind Blasen an Händen und Gesäß, den Vogel schoss aber Douglas-Hamilton ab. Er zog seine Ruderschuhe trotz Reibungsschmerzen erst nach einigen Tagen aus. "Ein Faden an der Ferse hatte sich fast bis zum Knochen durchgesägt", erzählt er. "Von da an brauchte ich Turnschuhe, um den Schmerz zu ertragen – und mit diesen bekamen meine Zehen Frostschäden." Er sagt das mit einem Lächeln. Nach einigen Monaten war alles verheilt.

Um die Wette

Dieser Jamie Douglas-Hamilton ist generell ein besonderer Fall, so wie all seine Kollegen. Der Schotte, Enkelsohn des ersten Menschen, der über den Mount Everest geflogen war, ruderte im Team mit O’Brady und dem Südafrikaner Bellamy. Letzteren kannte er schon von einer gemeinsamen, 57-tägigen Ruderei über den Indischen Ozean, auch Paul war damals dabei. "Jamie und ich lieben es, miteinander zu rudern", erzählt Bellamy. "Während einiger Stürme sind wir mit Rückenwind die Wellen runtergesurft, haben einander angeschrien und versucht, unseren Geschwindigkeitsrekord zu brechen." Zwischen den Dreierteams entwickelte sich ein Wettkampf um die erfolgreichste Schicht. Paul, Petersen und Towne gewannen: 6,8 Seemeilen – 12,6 Kilometer – in 90 Minuten.

Boot mit Wellen.
BrianNashel

Man kann diesen Teil der Geschichte auch aus Petersens Perspektive erzählen. "Es war der erste große Sturm, und ich hatte Angst. Ich weiß noch, wie ich Andrew ansah und sagte: ‚Ich weiß nicht, ob ich da rausgehen kann.‘ Er sagte, dass wir keine Wahl haben", erzählt er. "Als ich dann die Luke öffnete, kam Jamie von draußen und schrie: ‚Das ist so geil!‘" Petersen dachte sich zwei Dinge. "Erstens: Der ist verrückt. Und zweitens: Wenn er da draußen Spaß hat, warum sitze ich hier drin und habe Angst?"

Trotz der Familie

Petersen ist ein Sonderfall im Kreis der – diese Wiederholung sei erlaubt – Wahnsinnigen: Er hat eine kleine Tochter. "Dreimal habe ich über das Satellitentelefon meine Frau Sarah angerufen ... wenn die großen Wellen kamen, wenn ich Angst hatte, dass es vielleicht mein letzter Anruf ist", erzählt er. "Nach dem Auflegen war es unerträglich. Ich habe meine Entscheidung teilweise bereut, aber mitten im Ozean kannst du nicht einfach von Bord gehen und heimfahren. Das hat mich wahrscheinlich am Leben gehalten: gescheit rudern, in die Antarktis kommen, heimfliegen."

Die Drake-Passage kann ein sehr schöner Ort sein. Sie ist es nur selten.
BrianNashel

Der STANDARD hat allen Ruderern dieselbe Frage gestellt: Warum tut man sich das an? "Einmalige Erfahrung", "Wirklichkeitsflucht", "Abenteuer", "Grenzen überschreiten" kommt da zurück. Überzeugendere Erklärungen folgen, wenn man über die besten Momente spricht. "Im ruhigen Wasser zu rudern war eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens", sagt Towne. "Als wir nach elf Tagen erstmals Land gesehen haben, waren das 2000 Meter hohe Gletscher. Das unglaublichste Gefühl, das ich je hatte", sagt Bellamy. "Die letzten 36 Stunden waren die besten meines Lebens", sagt Douglas-Hamilton. "Es war ein Traum, am letzten Morgen das Wasser zu sehen ... so lebendig mit seinen Tieren und Eisbergen", sagt O’Brady.

In der Ozeanruderei ist Pyrotechnik kein Verbrechen.
Foto: Discovery Channel

Man könnte mit dieser Romantik enden, aber es würde der zwölftägigen Qual nicht gerecht werden. Die Drake-Passage ist eben ein unbarmherziger Ort. Das Sextett hat sie bezwungen. 530 Seemeilen, umgerechnet 982 Kilometer, mit purer Muskelkraft. "Wenn du da draußen bist, genießt du nicht viel", sagt Douglas-Hamilton, "aber wenn du zurückblickst, hast du tolle Erinnerungen." (Martin Schauhuber, 6.7.2020)

Geschafft. Nach zwölf Tagen auf See konnten die Ruderer nach ihrer Ankunft kaum gehen. Wer sich einmal an das Schwanken des Bootes gewöhnt hat, wird auf festem Untergrund landkrank.
Foto: Discovery Channel