Ein blauer Gigant ging verloren – vielleicht kollabierte er ohne Supernova zu einem Schwarzen Loch.
Illustr.: ESO/L. Calçada

Astronomen sind auf der Suche nach einem Objekt, von dem man meinen sollte, dass es nicht einfach so verloren gehen kann. Die Rede ist von einem gewaltigen instabilen Stern am Rande einer Supernova. Der sogenannte Leuchtkräftige Blaue Veränderliche (LBV) strahlt rund zweieinhalb Millionen Mal so hell wie die Sonne und ist in einer fernen Zwerggalaxie beheimatet – zumindest befand er sich dort noch bis vor wenigen Jahren. Als man kürzlich erneut nach dem Riesenstern Ausschau hielt, war von ihm jedoch keine Spur mehr zu entdecken. Die Forscher stehen vor einem Rätsel – freilich haben sie auch ein paar Hypothesen zum Schicksal des Giganten in petto.

Zu Beginn der 2000er-Jahre untersuchten mehrere Astronomengruppen den mysteriösen massereichen Stern in der Kinman-Zwerggalaxie. Die Beobachtungen des Riesen, der zu den hellsten bekannten Sternen zählt, ergaben, dass er sich in einem späten Stadium seiner Entwicklung befinden dürfte. 2019 wollte ein Team um Andrew Allan vom Trinity College Dublin, Irland, den Stern erneut ins Visier nehmen, um mehr darüber herauszufinden, wie besonders massereiche Sterne ihr Leben beenden. Doch als sie das Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO) auf die Galaxie richteten, war die charakteristische Signatur des Sterns nicht mehr aufzufinden.

Video: Zoom auf die Kinman-Zwerggalaxie. Das Bild wurde vom Hubble-Weltraumteleskop aufgenommen.
European Southern Observatory (ESO)

Instabil mit Neigung zu dramatischen Veränderungen

Die Kinman-Zwerggalaxie befindet sich etwa 75 Millionen Lichtjahre entfernt im Sternbild Wassermann und damit nicht nahe genug, um dort einzelne Sterne erkennen zu können. Nachweisbar sind sie dennoch, und zwar anhand ihrer spektralen Signaturen. Eine solche Signatur verriet zwischen 2001 und 2011 auch die Anwesenheit eines Leuchtkräftigen Blauen Veränderlichen (LBV). Sterne dieses Typs sind instabil und zeigen gelegentlich dramatische Veränderungen in ihrem Spektrum und ihrer Helligkeit. Sogar bei diesen Schwankungen hinterlassen LBVs spezifische Spuren, die von den Wissenschaftern identifiziert werden können. In den Daten, die Allans Team 2019 sammelte, fehlten sie jedoch. "Es wäre höchst ungewöhnlich, dass ein so massereicher Stern verschwindet, ohne eine helle Supernova-Explosion zu erzeugen", sagt Allan.

Die Gruppe richtete das ESPRESSO-Instrument des VLT erstmals im August 2019 auf den Stern, wobei sie die vier 8-Meter-Teleskope des Teleskops gleichzeitig einsetzte – und doch ließen sich die Anzeichen, die zuvor auf die Anwesenheit des hell leuchtenden Sterns hingewiesen hatten, nicht entdecken. Einige Monate später unternahm die Gruppe einen Versuch mit dem X-Shooter-Instrument, ebenfalls am VLT der ESO, und fand erneut keine Spur des Sterns. "Wir haben vielleicht einen der massereichsten Sterne des lokalen Universums entdeckt, der sanft in der Dunkelheit verschwindet", sagt Jose Groh (ebenfalls vom Trinity College Dublin), Koautor der nun in den "Monthly Notices of the Royal Astronomical Society" veröffentlichten Studie.

Forscher nahmen die Kinman-Zwerggalaxie mit dem Very Large Telescope (VLT) der ESO (oben) ins Visier. Im Vordergrund: Das ESO-Teleskop VISTA (Visible and Infrared Survey Telescope for Astronomy).
Foto: ESO/G.Hüdepohl

Aufschlussreicher Datenschatz

Das Team wandte sich dann älteren Daten zu, die mit X-shooter und dem UVES-Instrument am VLT in der chilenischen Atacama-Wüste und mit Teleskopen an anderen Orten gesammelt worden waren. "Die Science Archive Facility der ESO ermöglichte es uns, Daten desselben Objekts, die 2002 und 2009 gewonnen wurden, zu nutzen", sagt Andrea Mehner, eine Astronomin der ESO in Chile, die an der Studie teilnahm. "Der Vergleich der hochauflösenden UVES-Spektren von 2002 mit unseren Beobachtungen, die wir 2019 mit dem neuesten hochauflösenden Spektrografen ESPRESSO der ESO gewonnen haben, war besonders aufschlussreich, sowohl aus astronomischer Sicht als auch aus Sicht der Instrumentierung."

Die alten Daten deuteten darauf hin, dass der Stern in der Kinman-Zwerggalaxie eine starke Ausbruchsperiode durchgemacht haben könnte, die wahrscheinlich irgendwann nach 2011 endete. Leuchtkräftige Blaue Veränderliche Sterne wie dieser neigen dazu, im Laufe ihres Lebens gigantische Ausbrüche hervorzubringen, was dazu führt, dass die Massenverlustrate der Sterne stark ansteigt und ihre Leuchtkraft dramatisch zunimmt.

Video: Animation des Leuchtkräftigen Blauen Veränderlichen.
European Southern Observatory (ESO)

Zwei Hypothesen

Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen und Modelle haben die Astronomen zwei Erklärungen für das Verschwinden des Sterns und das Fehlen einer Supernova vorgeschlagen, die mit diesem möglichen Ausbruch zusammenhängen. Der Ausbruch könnte dazu geführt haben, dass der LBV in einen weniger leuchtkräftigen Stern umgewandelt wurde, der auch teilweise durch Staub verdeckt sein könnte. Alternativ könnte es aber auch sein, dass der Stern ohne vorangegangene Supernova-Explosion zu einem Schwarzen Loch kollabiert ist. Dies wäre ein seltenes Ereignis: Das derzeitige Verständnis darüber, wie massereiche Sterne sterben, deutet darauf hin, dass die meisten von ihnen ihr Leben in einer Supernova beenden.

Weitere Beobachtungen sind notwendig, um letztlich herauszufinden, welches Schicksal diesen Stern tatsächlich ereilt hat. Das Extremely Large Telescope (ELT) der ESO, dessen Inbetriebnahme für das Jahr 2025 geplant ist, wird mit seiner hohen Auflösung dazu in der Lage sein, einzelne Sterne in entfernten Galaxien wie der Kinman-Zwerggalaxie zu identifizieren, um so eine Lösung für das kosmische Rätsel zu liefern. (tberg, red, 2. 7. 2020)