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In Russland haben laut offiziellen Teilergebnissen 77,9 Prozent der Stimmberechtigten für die von Präsident Wladimir Putin vorgeschlagene Verfassungsreform gestimmt. Das teilte die zentrale Wahlkommission am Mittwoch nach Auszählung aller abgegebenen Stimmen mit. Die Verfassungsänderung würde es Putin ermöglichen, bis 2036 Präsident zu bleiben. Der Kreml sprach in einer ersten Reaktion von "einem Triumph" und einem "Beleg für das Vertrauen in Präsident Putin".

Vor dem Wahllokal Nummer 65 in der Kleinstadt Alexandrow, 100 Kilometer von Moskau entfernt, maß ein junger Mann in Maske, Einweghandschuhen und -umhang Fieber bei den Bürgern. Maske, Handschuhe und Feuchttücher zum Desinfizieren gab er auch an die Wählerinnen und Wähler aus. Eine Erinnerung an die in Russland immer noch grassierende Pandemie.

Steigende Infektionszahlen

Abgestimmt wurde trotz steigender Infektionszahlen. 654.000 Fälle sind inzwischen registriert, allein am Mittwoch kamen 6.556 hinzu. Putins Rating sank zuletzt auf ein Rekordtief. "Ich hoffe, ihr zählt ehrlich aus", wandte sich die Pensionistin Ludmila an die Kommission im Wahllokal. Sie habe jedenfalls gegen die Verfassungsänderung gestimmt, erklärte sie. Eigentlich verstößt die Aussage im Lokal gegen das Wahlrecht, aber die Abstimmung über die Verfassungsänderung ist eh keine echte Wahl.

Bindende Kraft habe das Referendum nicht, sagt selbst Wahlleiterin Ella Pamfilowa. Die Volksbefragung finde nur statt, weil der Präsident der neuen Verfassung höhere Legitimation geben wolle.

Neue Abstimmungsprozedur

Dafür ist sie ein ideales Testfeld für die kommenden Wahlen. Erstmals wurde die Abstimmung auf eine Woche gestreckt. Zudem konnten Bürger online oder an einem beliebigen Ort wählen, wenn sie sich vorher an ihrer Meldestelle abgemeldet hatten.

Der Kreml wollte so die Wahlbeteiligung anheben – und die Rechnung ist laut Wahlkommission aufgegangen. Bereits nach den ersten sechs Tagen lag die Beteiligung bei 55 Prozent.

Die Chefin des Föderationsrats, Walentina Matwijenko, schlug bereits vor, die Neuerung auch bei den kommenden Wahlen einzusetzen. Allerdings wurde das Ergebnis auch durch Nötigung erreicht: Lehrer und Ärzte, Angestellte der Metro, Bauarbeiter und Mitarbeiter großer staatlicher Konzerne wurden zur Stimmabgabe gedrängt, teilweise mussten sie Berichten zufolge Rechenschaft darüber ablegen.

Keine effiziente Wahlbeobachtung

Im Moskauer Stadtbezirk Lefortowo kam es zum Skandal, weil eine Familie, die abstimmen wollte, feststellen musste, dass für sie bereits abgestimmt wurde. Generell beklagen Wahlbeobachter, dass durch die zeitliche Streckung der Abstimmung eine effiziente Wahlbeobachtung unmöglich sei. Am Ergebnis, dass eine klare Mehrheit für die Verfassungsänderung gestimmt hat, gibt es aber wenig Zweifel.

Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow sprach sich dafür aus, Putin lebenslänglich zum Präsidenten zu ernennen. Doch nicht alle Russen sind seiner Meinung. Auf dem Roten Platz nahm die Polizei mehrere Personen fest, die mit ihren Körpern auf dem Pflaster die Zahl 2036 bildeten. Die Opposition rief am Abend in Moskau zu Demonstrationen gegen die ihrer Meinung nach illegale Verfassungsänderung auf.

Nawalny: "Riesige Lüge"

Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verurteilte das Referendum als "riesige Lüge". "Die 'Ergebnisse', die sie gerade verkündet haben, sind gefälscht und eine riesige Lüge", erklärte Nawalny am Mittwoch kurz nach der Bekanntgabe von offiziellen Teilergebnissen. Die Ergebnisse hätten "nichts mit der Meinung der russischen Bürger zu tun", kritisierte Nawalny. Er hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen.

Die unabhängige Wahlbeobachtungsgruppe Golos berichtete von hunderten Beschwerden über Verstöße gegen die Wahlfreiheit. Dem widersprach Wahlkommissionschefin Pamfilowa. Im gesamten Wahlprozess seien "keine ernsthaften Verstöße" sichtbar geworden.

Nach Angaben der Wahlkommission hatten sich rund 65 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt. Der Kreml hatte landesweit massiv für das Referendum geworben und sogar Preise wie Eigentumswohnungen und Autos ausgelobt.

Österreich kein Putin-Land

Im Unterschied zur Bevölkerung in Russland haben die in Österreich lebenden russischen Staatsbürger mit deutlicher Mehrheit gegen die Verfassungsnovellen gestimmt. "1.251 Bürger der Russischen Föderation nahmen an der Abstimmung teil. Für die vorgeschlagene Novellierung der russischen Verfassung wurden 492 Stimmen (39,36 Prozent) abgegeben, dagegen 754 (60,32 Prozent)", informierte der russische Botschafter in Österreich, Dmitri Ljubinski, in der Nacht auf Donnerstag auf Facebook.

Dieses Stimmverhalten der Russen in Österreich kann in Kombination mit einer niedrigen Wahlbeteiligung als deutliche Niederlage für Putin gewertet werden. Denn bei der Präsidentenwahl im März 2018 hatte er auch unter Österreichs Russen noch mit 63 Prozent klar reüssieren können. Damals hatten sich 2.487 Personen in Österreich an der Abstimmung beteiligt. (red, André Ballin aus Alexandrow, 1.7.2020)