"Behandelt uns nicht wie Kinder und Volldodeln!": So brachte Beate Meinl-Reisinger ein Gefühl auf den Punkt, das sich im Laufe des Lockdowns unter freigeistigen Bürgern breitgemacht hatte. Ohne Debatte hatte die Regierung im Kampf gegen Covid-19 Verbote und Regeln diktiert, garniert mit oberlehrerhaften Mahnungen. "Ein selbstbewusster Staat appelliert an die Eigenverantwortung der Menschen, bevor er sie mit Verordnungen und Maßnahmen erschlägt", kritisierte die Neos-Chefin – und sprach auch vielen STANDARD-Lesern aus dem Herzen.

Was gewesen wäre, wenn ÖVP und Grüne diesem Rat gefolgt wären, lässt sich naturgemäß nicht feststellen. Doch die angebrochene Laisser-faire-Phase bietet einen Test, wie weit es mit dem beschworenen Verantwortungsbewusstsein tatsächlich her ist. Seit die Vorschriften purzeln, bleibt viel der Abschätzung des Einzelnen überlassen: Entscheidend sei, sagt die Expertenschaft, trotz wiedergewonnener Freiheiten den Ein-Meter-Abstand einzuhalten – und, falls unmöglich, freiwillig eine Maske zu tragen.

Nur wenige sind noch bereit, eine Maske zu tragen.
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Wer sich mit offenen Augen unter Leute begibt, der sieht zwischen Theorie und Praxis eine riesige Kluft klaffen. Mittlerweile vernachlässigen derart viele Menschen die Grundregeln, dass es wie eine glatte Untertreibung klingt, wenn Gesundheitsminister Rudolf Anschober von gesunkenem Risikobewusstsein bei einem "überschaubar kleinen Teil der Bevölkerung" spricht. Den obligaten Ausweichhaken bei Begegnungen auf dem Gehsteig haben sich Passanten vielfach abgewöhnt, Gruppen flanieren wie in alten Zeiten. In Supermärkten oder Wirtshäusern schieben sich die Kunden aneinander vorbei, als habe nie ein Virus grassiert, nur wenige tragen Maske. Immer öfter strecken Wohlmeinende wieder Hände zum Gruß entgegen – der von klein auf erlernte Reflex lässt einen rasch einschlagen.

Corona-Benimmregeln

Der wachsende Leichtsinn, von dem sich der Autor gar nicht restlos ausnimmt, ist gut nachvollziehbar. So lange hat der Lockdown nicht gedauert, dass die Corona-Benimmregeln in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und seit das Virus nicht mehr jede Schlagzeile, jedes Politikerstatement bestimmt, entschwindet es auch aus dem Bewusstsein der Bürger. Der Sommer trägt dazu bei, düstere Themen zu verdrängen, außerdem ist die Bedrohung schwer greifbar. Laut Dunkelzifferschätzungen ist die Ansteckungsgefahr für den Einzelnen gering, wer fit und nicht allzu alt ist, der kann eine Erkrankung in der Regel gut verkraften. Das verleitet Menschen dazu, ihr Verhalten am individuellen Risiko zu orientieren statt an den gesamtgesellschaftlichen Folgen eines neuerlichen breiten Ausbruchs.

Das soll kein Plädoyer für ein jähes Comeback der Verbotspolitik sein. Ob die Sorglosigkeit bedenkliche Ausmaße annimmt, haben die Experten anhand der Infektionszahlen zu bewerten. Doch falls tatsächlich eine zweite Welle heranschwappen sollte: Der aktuelle Herdentrieb spricht nicht dafür, dass dann bloße Appelle an die Eigenverantwortung der Bürger als Reaktion reichen werden. (Gerald John, 1.7.2020)