Bettina Klaninger ist Psychotherapeutin, Klinische und Gesundheitspsychologin sowie psychologische Leiterin des Stressmanagement-Instituts.

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Die Welt geht nicht unter, wenn man etwas nicht perfekt macht – diese Einsicht hilft gegen Stress.

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STANDARD: Durch die Corona-Krise und ihre Auswirkungen fühlen sich viele Menschen derzeit gestresst. Wie bewältigt man das?

Klaninger: Ganz viel läuft über Akzeptanz. Man muss anerkennen, dass man in einer schwierigen Situation ist, und sich selbst sagen, dass man diese Gefühle haben, dass man durch den Wind, überfordert, verzweifelt oder verängstigt sein darf. Dadurch wird die Situation normalisiert und bekommt Berechtigung. Gerade in der aktuellen Krise ist man mit dieser Überforderung ja nicht allein – es kann auch helfen, sich das in Erinnerung zu rufen. Eine Strategie kann sein, sich an Krisen in der Vergangenheit zu erinnern und daran, wie es damals gelungen ist, sie zu bewältigen. Wir sind ja mit vielen Stresssituationen konfrontiert und haben prinzipiell ausreichend Ressourcen, damit zurechtzukommen.

STANDARD: Welche bewährten Konzepte gibt es noch?

Klaninger: Zur Stressbewältigung kann man soziale Beziehungen nutzen, für einen Ausgleich sorgen, Sport machen, sich gut ernähren und auf ausreichend Schlaf achten. Hilfreich ist auch die Kompetenz, Aufgaben zu delegieren sowie die eigenen Leistungsansprüche zu hinterfragen. Man muss nicht immer alles zu hundert Prozent machen. Es geht darum, zu akzeptieren, dass nicht alles möglich ist. Wichtig ist auch, sich nicht zu verurteilen oder abzuwerten, weil man nicht alles schafft. Es braucht auch viel Selbstmitgefühl.

STANDARD: Wie ist das gemeint?

Klaninger: Viele Menschen sind nicht sehr liebevoll zu sich selbst. Mit Freunden, die sich in einer schwierigen Situation befinden, würde man mitfühlend umgehen und niemals sagen: "Reiß dich zusammen!" Zu uns selbst sagen wir das aber ganz oft.

STANDARD: Was macht jemand, dem alles zu viel wird, konkret?

Klaninger: Am besten setzt man sich in einer ruhigen Minute hin und fragt sich selbst: Welche Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen verursacht der Stress? Wie verhalte ich mich dadurch? Was sind Stressverstärker? Wer schon ständig Kopfweh, Verspannungen oder Rückenschmerzen hat, der braucht eine körperliche Entlastung. Dann können Massagen, Sport oder die Umgestaltung des Arbeitsplatzes helfen. Danach sollte man sich bewusst machen, warum man ein Stress-Erleben hat. Sind es Leistungserwartungen? Will man es jedem recht machen, beliebt oder perfekt sein? Muss man den Haushalt immer selbst machen, die Kinder immer perfekt gekämmt in die Schule bringen? Wer kann einem was abnehmen?

STANDARD: Und wenn man das herausgefunden hat?

Klaninger: Mit einmal Hinterfragen ist die Sache nicht erledigt. Man muss auch die eigene Haltung infrage stellen. Veränderungen sind immer ein Prozess, sie brauchen Zeit, Übung – wie Radfahren oder Tennisspielen – und müssen sich erst einspielen. Oft muss man auch erst ausprobieren, wie eine Umstellung funktionieren kann.

STANDARD: Haben Sie konkrete Tipps?

Klaninger: Kleine Notizen am Kühlschrank, an der Haustür oder als Bildschirmschoner können helfen. Da steht dann "Du schaffst das!" oder "Du hast schon das und das bewältigt!". Auch klare Zieldefinitionen sind hilfreich. Man sollte sich fragen: Wo will ich hin, wie soll meine Situation stattdessen sein? Dann sollte man sich den Weg in kleine, überprüfbare Schritte einteilen. Der vage Vorsatz "Mehr Sport und Bewegung" ist zu unspezifisch. Sich vorzunehmen, einmal pro Woche eine halbe Stunde zu Fuß zu gehen, ist leichter umsetzbar.

STANDARD: Wie verhält man sich in einer akuten Stresssituation?

Klaninger: Es sind mehrere Schritte. Zuerst die Situation wahrnehmen und sich fragen: Was erlebe ich gerade? Welche Gedanken und Emotionen habe ich? Dann sollte man sich ganz bewusst stabilisieren und beruhigen anstatt auszuflippen oder wütend zu werden. Ein Schluck Wasser, ein Kaugummi, eine Atemübung oder ein anderer Sinnesreiz können dabei helfen. Es geht darum, in einen handlungsfähigen Bereich zu kommen, in dem man die Situation konstruktiv lösen kann. Es bringt nichts, wütend auf sich selbst zu sein, weil man etwa den Zug verpasst hat.

STANDARD: Sondern?

Klaninger: Stattdessen gilt es zu analysieren, wie man das Problem lösen kann – eine andere Verbindung suchen, die Reise absagen, weil sie möglicherweise den Aufwand nicht wert ist, mit dem Taxi fahren oder auch einfach entscheiden, im Moment nichts zu unternehmen. Nicht alle Probleme müssen sofort gelöst werden, man kann sich auch bewusst dagegen entscheiden und die Situation einfach akzeptieren.

STANDARD: Ist Stress nur eine Frage der Einstellung?

Klaninger: Sowohl als auch. Unsere Gedanken, unser Bauchgefühl und unsere Körperreaktionen – das alles spielt zusammen. Natürlich können wir auf unsere Gedanken Einfluss nehmen, etwa wenn man sich sagt: 80 Prozent einer Leistung reichen auch. Und es kommt immer darauf an, wie eine Situation bewertet wird. Für die einen ist eine neue Aufgabe im Job stressig, für die anderen ist sie eine Chance, sich beweisen zu können. Im besten Fall schafft man es, die eigene Haltung zu hinterfragen, mehr Gelassenheit zu entwickeln, die Überzeugung, dass man Situationen gewachsen ist, sowie die Einsicht, dass die Welt nicht untergeht, wenn man etwas nicht perfekt macht.

STANDARD: Wie schafft man das?

Klaninger: Indem man sich etwa in Erinnerung ruft, wie viel man eigentlich bewältigen kann. In der Corona-Krise schaffen derzeit alle sehr viel. Wir sind mit einer neuen und unerwarteten Situation zum größten Teil sehr gut umgegangen und haben unseren Alltag trotz Ausgangsbeschränkungen gut gemeistert.

STANDARD: Wie gelingt im Alltag ein guter Belastungsausgleich?

Klaninger: Man sollte sich bewusst positive Aktivitäten suchen – Sport machen, Freunde treffen, in der Natur spazieren gehen, Spiele spielen, kreativ sein, malen oder musizieren. Wir alle haben diese Hobbys, kommen aber oft nicht dazu.

STANDARD: Und wenn nicht? Soll man aktiv nach einer neuen Beschäftigung suchen?

Klaninger: Nein, nicht unbedingt. Gerade in der Corona-Krise hatten viele das Gefühl, sich ein zusätzliches Hobby suchen zu müssen. Das ist aber nicht notwendig. Wir alle haben ohnehin schöne Dinge im Alltag. Durch unsere Problembetrachtungsweise vergessen wir aber oft, was bereits gut funktioniert und uns Freude bereitet – dass die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, wie gut eine Tasse Kaffee schmeckt. Auch an solchen Dingen kann man sich erfreuen, indem man etwas achtsamer wird.

STANDARD: Sind Frauen gestresster als Männer?

Klaninger: Ja, durch die Doppelbelastung sind es zum größten Teil Frauen, die mehr Stress erleben. Beruf, Kinder, Haushalt, Hobbys, ein großer Freundeskreis und die Pflege von Angehörigen – das alles kommt zusammen, dadurch sind Frauen sehr viel mehr belastet.

STANDARD: Man soll ja schon handeln, bevor man sich gestresst fühlt. Wie gelingt das?

Klaninger: Corona war für viele hier eine Zäsur, die ermöglicht hat, innezuhalten. Viele haben gemerkt, dass sie nicht so weitermachen und sich ständig verausgaben wollen. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, wie man leben und wie gesund man sein will. Man sollte immer wieder Bilanz ziehen über die Gewichtung zwischen Arbeit, Beruf und Familie und darüber, wo es mit einem hingeht. In der Krise haben das viele gemacht und nun entschieden, dass sie dahin nicht mehr zurückkehren möchten, wo sie vor Corona waren. (Bernadette Redl, 4.7.2020)