Die juristische Aufarbeitung der Corona-Zeit beginnt soeben erst. Was die politischen Verantwortlichen vieler Länder erwartet, lässt sich an Frankreich ablesen, wo die Anzeigen und Gerichtsklagen am weitesten gediehen sind. 84 Fälle haben Anwälte bereits bei der Staatsanwaltschaft in Paris eingereicht.

Einer stammt von einer Mutter aus dem Pariser Vorort Fontenay-sous-Bois. Raizel – sie nennt nur ihren Vornamen – ist 35 Jahre alt, hat aber nach eigenen Worten heute die "körperlichen Probleme einer Großmutter". Einen Monat verbrachte sie im Spital, einen Teil davon im künstlichen Koma.

"Fahrlässige Tötung"

Drei ihrer fünf Kinder, ihre Schwester und ihre Mutter wurden ebenfalls infiziert – vermutlich wegen eines Familienfests Anfang März. "Zu diesem Zeitpunkt hätte die Regierung längst ein Versammlungsverbot erlassen müssen", begründet Raizels Anwalt die Klage gegen den französischen Staat.

Andere Eingaben stammen von angesteckten Krankenschwestern, Feuerwehrleuten oder Kassiererinnen. In Paris klagt eine Tochter auf fahrlässige Tötung, weil ihr Vater, ein älterer Allgemeinmediziner in der tiefen Banlieue, an Covid-19 starb. Er habe mangels staatlicher Vorbeugung ohne Gesichtsmaske arbeiten müssen, empört sich die Klägerin, die keine finanzielle Entschädigung verlangt, sondern "bloß die Feststellung der Verantwortlichkeiten".

Macron immun

Die Pariser Staatsanwaltschaft hat die bisher eingegangenen Beschwerden und Strafklagen vergangene Woche in 14 getrennte Verfahren aufgeteilt und eine Voruntersuchung begonnen. Mehrere Klagen gegen den Altersheimbetreiber Korian lauten auf "Unterlassung von Hilfe für gefährdete Personen". Am häufigsten haben sie aber die Regierung im Visier. Präsident Emmanuel Macron kann nicht behelligt werden, da er über eine umfassende Amtsimmunität verfügt. Für ihn muss Premierminister Edouard Philippe den Kopf hinhalten.

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Emmanuel Macron ist vor Strafverfolgung geschützt.
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Geklagt werden auch die Gesundheits-, Justiz- und Innenminister. Agnès Buzyn, die im Februar als Gesundheitsministerin zurückgetreten war, um bei den folgenden Gemeindewahlen anzutreten, wird als Beleg für politisches Fehlverhalten zitiert: "Ich wusste, dass ein Tsunami auf uns zukommen würde, und warnte Edouard Philippe schon am 30. Jänner", plauderte sie später aus dem Nähkästchen. Die trotz der Corona-Krise abgehaltenen Gemeindewahlen bezeichnete sie als "Maskerade", um anzufügen: "Wir hätten die Wahl stoppen müssen." Macron hielt aber am ersten Wahlgang am 15. März fest.

Maßnahmenvergleich

Unter den heutigen Klägern befinden sich deshalb auch Lokalpolitiker, die vermutlich bei der ganztägigen Aufsicht in den Wahllokalen angesteckt worden waren. Der sozialistische Abgeordnete Boris Vallaud verlangt nun einen fundierten Vergleich der europäischen Maßnahmen. Eine solche vergleichende Übersicht müsse von den EU-Gerichten erstellt werden, meinte er.

Andere Politiker warnen vor solchen Erhebungen, da sie in härter getroffenen Ländern eine ganze Serie von Strafklagen auslösen müssten. Anwaltskanzleien auf der ganzen Welt halten Großkonzerne und Investoren offenbar schon jetzt zu Gerichtsklagen an, wie die Organisationen Corporate Europe Observatory und Transnational Institute publik gemacht haben. Im Unterschied zu den privaten Corona-Opfern werfen die Zivilkläger den Behörden vor, zu massiv eingeschritten zu sein. Das habe für hohe Geschäftsschäden und damit -verluste gesorgt.

Sammelklagen in Italien

Auch in Italien, mit knapp 35.000 Toten eines der am stärksten betroffenen Länder, sind Sammelklagen in Vorbereitung. Bürgerinnen und Bürger können sich online bei der Konsumentenorganisation Codacons melden, andere Organisationen bereiten Sammelklagen gegen die chinesische Regierung vor. Eine Einzelklage gegen das chinesische Gesundheitsministerium hinterlegt hat außerdem das Hotel de la Poste in Cortina. Die Begründung für die Klagen lautet immer ähnlich: Chinas Behörden hätten nicht rechtzeitig über die Epidemie in ihrem Land informiert – und damit die Verbreitung des Virus in andere Länder begünstigt.

Eine weitere Sammelklage, die in Vorbereitung ist, richtet sich aber auch gegen die eigene Regierung: Durch späte und verfehlte Maßnahmen sei der Tod tausender Menschen verursacht worden, betont die Konsumentenorganisation Consumatori Associati. Sie kritisiert aber auch, dass die von der Regierung versprochenen finanziellen Soforthilfen und die staatlich garantierten Covid-Kredite der Banken nur äußerst langsam oder gar nicht ankämen. Damit würden unzählige vermeidbare Konkurse verursacht. (Stefan Brändle aus Paris, Dominik Straub aus Rom, 3.7.2020)