Niemand hätte darauf gewettet, dass Mark Lanegan die 1990er überlebt. Auch er nicht. Hat er aber. In seiner Autobiografie memoriert er die wohl härteste Zeit seines Lebens.

Foto: Heavenly Rec. / Pias

Er liegt in Krämpfen in einer Londoner Straße. Schulkinder gehen erschrocken an ihm vorbei. Mit letzter Kraft schleppt er sich in die Wohnung eines Dealers. Während der eine Spritze für ihn vorbereitet, muss er aufs Klo. Vorne und hinten schießt es schwarz aus seinem Körper, zeitgleich. Der erste Schuss Heroin hilft nur wenig, der zweite ist es, der ihm wieder auf die Beine hilft. Zumindest kurz.

Es ist einer der vielen Tiefpunkte im Leben des Mark Lanegan, die über Jahre sein Alltag sind. Drogen checken, einwerfen, dealen. Daneben ist er Sänger der Band Screaming Trees. Mit ihr auf Tour zu gehen macht das Leben für den Junkie kompliziert und noch schlimmer.

Die Screaming Trees sind in den 1980ern eine Underground-Band, bis sie im Sog des Erfolgs von Nirvana und dem einsetzenden Seattle-Boom bekannt werden. Zu Lanegans Freunden zählen Kurt Cobain, Layne Staley von Alice In Chains, Chris Cornell von Soundgarden, Kristen Pfaff von Hole und sein großes Idol Jeffrey Lee Pierce, der Sänger des Gun Club. Alle sind sie tot, nur er lebt noch.

Ein Schutzengel

Mark Lanegan ist einer besten Sänger des Rockzirkus, bekannt unter eigenem Namen oder als Stimme für Bands wie Queens of the Stone Age und andere. Sein charismatischer Bass liegt in seinen Liedern wie Donner über dem Grundwasser.

Mit Mitte 50 hat er nun seine Memoiren veröffentlicht: Sing Backwards and Weep. Es sind nüchterne Erinnerungen an Zeiten, in denen er nur nüchtern war, wenn die Drogenversorgung zusammenbrach. Die Sucht bringt den rothaarigen Hünen mit dem grimmigen Blick in Situationen, die er oft nur mit Glück, seiner Rossnatur und wegen Courtney Love überlebt. Die Witwe von Kurt Cobain erweist sich Ende der 1990er als Schutzengel, sonst gäbe es dieses Buch wohl nicht. Ende der 1990er endet es auch.

"I'll Take Care of You" – für sich selbst hat das lange nicht gegolten.
Mark Lanegan - Topic

"I was an expert for trading gold for garbage", schreibt er, und man braucht nur irgendeine Seite des Buchs aufzuschlagen, schon bestätigt sich das: 1993 bittet ihn der Produzent Rick Rubin um Songs für Johnny Cash. Er denkt, seine Lieder wären zu düster für Cash und schickt Rubin ein paar lauwarme Ideen. Als American Recordings dann erscheint und Cash eine zweite Weltkarriere beschert, ist es voller Songs über Mörder, den Tod und den Teufel.

Über Arschlöcher

Im selben Jahr will der noch unbekannte David O. Russell seine Musik für seinen ersten Film verwenden. Er lädt ihn an die Ostküste ein und verspricht ihm eine lange Partnerschaft. Immer wieder versucht er es, doch Lanegan ruft nie zurück. Zu gut ist gerade die Drogenversorgung bei ihm im Viertel. Russell wurde mit Filmen wie Three Kings ein weltberühmter Regisseur.

"Revival" – Lanegan mit den Soulsavers. Eine von vielen Kollaborationen, denen er seine Stimme lieh.
V2Music

Während autobiografische Erinnerungen oft milde mit sich selbst ausfallen, erspart Lanegan sich und seinem Publikum nichts. Gnade lässt er nur indirekt walten: Wenn er jemanden ein Arschloch heißt – und er begegnet einigen –, kommt immer der Nachsatz, dass er wohl das größere gewesen sei.

Gewalt als zweite Sprache

Lanegan wird 1964 in Ellensburg im US-Bundesstaat Washington geboren. Seine Familie beschreibt er als Rednecks, seine Mutter als liebloses Monster, der Vater empfiehlt sich. Mit zwölf ist er regelmäßig betrunken, high oder beides. Er bestiehlt Mitschüler, prügelt sich, ist auf dem Weg nach unten und entgeht nur knapp dem Knast: Im stattdessen verordneten Drogenentzugsprogramm sitzt er nie nüchtern. Er ist ein sozialer Härtefall für alle, die ihm begegnen. "Violence became just another way of communicating, a second language I quickly became fluent in." Doch mit Punkrock öffnet sich ihm ein Schlupfloch.

Ein Ausschnitt aus Lanegans Audiobuch.
Alice In Chains Vault

Mit anderen Misfits gründet er die Screaming Trees, landet beim angesagten Label SST und beginnt eine Karriere. Doch sein exzessiver Alkoholkonsum macht ihn unberechenbar und beschert ihm Blackouts. Statt weniger zu trinken, steigt er auf Heroin um.

Freunde wie Cobain werden berühmt, das zieht seine Band mit und führt ihn auf die größten Bühnen und in die dunkelsten Gassen, wo mehr als einmal Blut fließt: seines und das von anderen.

Kurtis Stiefel

Lanegans frühes Leben ist eines der vergebenen Chancen. Er droht beständig unterzugehen, wird obdachlos und dealt für Rockstar-Freunde. Er ist ein Lowlife im Highlife; da fallen Anekdoten sonder Zahl ab. Manche sind dramatisch – einmal verliert er fast seinen Arm –, andere komisch: Mit Cobain liegt er in der Suite eines Luxushotels. Auf MTV beginnt das Video von Smells Like Teen Spirit zu laufen. Cobain wirft seinen Stiefel in Richtung Fernseher und trifft punktgenau den Ausschaltknopf. Eine Sekunde lang ist es ruhig. Dann fährt auf der Straße ein Wagen vorbei, aus dem dasselbe Lied in voller Lautstärke ertönt. "No way!", schreit Cobain und steckt den Kopf in den Polster.

Dealen für Nick Cave

Oder als Nick Cave bei Lanegan Drogen kauft und sie auf dem Gang das benachbarte Gothic-Pärchen treffen, das Cave mit offenen Mündern anstarrt, während der freundlich grüßt. "They never looked at me the same", schreibt Lanegan. Oder wie er Liam Gallagher von Oasis auf einer gemeinsamen Tour Watschen androht und der daraufhin das letzte Konzert absagt, um der Auseinandersetzung mit "Dark Mark" zu entgehen. Klingt lustig, ist unterhaltsam, gleichzeitig könnte es unglamouröser nicht sein.

Lanegan erbittet keine Absolution, die Arbeit an dem Buch nennt er eine Katharsis. Seine Genugtuung ist, dass er noch lebt und heute eine prosperierende Karriere am Laufen hält, mit Projekten und Fans auf der ganzen Welt. In Sing Backwards and Weep notiert er bloß, was war. Das reicht. Es war die Hölle, und es ist ein Wunder, dass sie ihn so oft wieder ausgespuckt hat. (Karl Fluch, 3.7.2020)