Palästinenser demonstrieren in Gaza-Stadt gegen die Annexionspläne der israelischen Regierung.


Foto: Imago / Yousef Masoud

Es hatte sich spätestens zu Wochenbeginn abgezeichnet, dass der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu den Stichtag verstreichen lassen würde: Laut Regierungsprogramm kann er ja beginnend mit 1. Juli seinen Annexionsfahrplan für bis zu 30 Prozent des Westjordanlandes seinem Kabinett oder der Knesset vorlegen, im Einklang mit dem Nahost-Friedensplan von US-Präsident Donald Trump. Er werde "in den kommenden Tagen" daran weiterarbeiten, hatte Netanjahu am Dienstag gesagt. Laut Jerusalem Post warte man auch noch auf eine Erklärung, ein grünes Licht, vonseiten Trumps.

Ob es nun Tage oder Wochen dauern und "sanft" – gemeint sind damit kleinere Portionen, vielleicht anfangs nur Souveränitätserklärungen über eher unwichtige Gebiete – vor sich gehen würde: Darüber darf heftig spekuliert werden. Zuletzt gab es einigen Gegenwind. Den internationalen Stimmen, die Israel vor einer Annexion warnten, hatte sich zuletzt der britische Ministerpräsident Boris Johnson mit einem Artikel in der stark gelesenen Yedioth Ahronoth angeschlossen. Aber auch Netanjahus Koalitionspartner und Alternativpremier, Verteidigungsminister Benny Gantz, hatte gemahnt, Prioritäten zu setzen: die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen. Und es ist bereits seit dem Besuch von US-Außenminister Mike Pompeo in Israel im Mai bekannt, dass Washington wünscht, dass sich Netanjahu mit Gantz abstimmt.

Unangenehmer Pferdefuß für die Rechte

Also war es wohl auch aus Netanjahus Sicht nicht der richtige Zeitpunkt, die israelische Souveränität über Gebiete zu erklären, die laut Völkerrecht seit 1967 von Israel besetzt sind. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt? Pro-Annexionsgruppen befürchten, dass die Chance versäumt werden könnte, und appellieren an Netanjahus Verpflichtung der Geschichte gegenüber. Gleichzeitig kommt ja der Plan, den Trump unter Führung seines Schwiegersohns Jared Kushner ausarbeiten ließ, mit einem für die israelische Rechte unangenehmen Pferdefuß daher: Darin ist nämlich sehr wohl die Rede von einem palästinensischen Staat, auch wenn er in der konzipierten Form diesen Namen kaum verdienen dürfte.

Es ist zweifellos eine Art Paradigmenwechsel, wenn derzeit als positive Entwicklung vermerkt wird, dass Israel trotz prinzipieller US-Erlaubnis nicht so schnell annektiert: die Fortsetzung des jetzigen Zustands als geringeres Übel. Genau unter diesem Aspekt lobten ja manche – wie der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg – vage den Trump-Plan: Vielleicht komme dadurch etwas in Bewegung.

Eine eher kühne Erwartung wäre, dass es nun ein kurzes Fenster gäbe, um die Palästinenser wieder zurück an den Verhandlungstisch zu bringen, wohin sie eigentlich nur unter der Bedingung eines Siedlungsbaustopps im Westjordanland zurückkehren wollten. Selbst wenn solche Verhandlungen wirklich zustande kommen sollten: Dass dabei etwas herauskommen könnte, erwartet wohl niemand. So kann man Trump als Killer der Zweistaatenlösung bezeichnen. Oder auch anmerken, dass man etwas, das längst tot ist, nicht mehr umbringen kann.

Chance mit Ablaufdatum?

Netanjahu – von den eigenen Skandalen geplagt und durch das Wiederaufflammen von Covid-19 des Mythos beraubt, der denkbar beste Corona-Manager zu sein – befindet sich auch in der Annexionsfrage in einer eher unangenehmen Lage. Die historische Chance, die sich Israel unter einem US-Präsidenten Donald Trump bietet, könnte tatsächlich ein Ablaufdatum haben. Angesichts der derzeitigen Umfragen kann Netanjahu nicht mehr auf die sichere Bank einer zweiten Amtszeit Trumps setzen.

Dennoch kann für Netanjahu nicht der einzig logische Schluss sein, die Annexionen möglichst schnell durchzuziehen: Denn Israel kann kein belastetes Verhältnis zu einem US-Präsidenten Joe Biden brauchen, der zwar prinzipiell Israel-freundlich ist – und etwa die US-Botschaft nicht mehr von Jerusalem nach Tel Aviv zurückverlegen würde –, sich jedoch klar gegen die Annexionen ausgesprochen hat. Fraglich ist auch, ob Biden Trumps Iran-Politik, die sehr von Netanjahu beeinflusst ist, fortsetzen würde.

Oder soll Netanjahu Wahlkampfhilfe leisten? Trumps Nahostplan war immer auch nicht nur für seinen Freund Bibi, sondern für die eigene christlich-evangelikale Anhängerschaft gedacht: Aber die würde Trump ja ohnehin wählen, egal, was Netanjahu tut. (Gudrun Harrer, 2.7.2020)