Foto: AFP

Zumindest die diplomatischen Wogen gehen hoch im Mittelmeer. Auslöser ist laut französischer Darstellung ein "äußerst aggressiver" Akt durch ein türkisches Kriegsschiff. Es nahm am 10. Juni mit seinem Feuerleitradar womöglich dreimal die französische Fregatte Courbet ins Visier, die mit dem Nato-Überwachungsmandat Sea Guardian unterwegs war.

Militärtechnisch hätten die türkischen Kanonen damit Computerdaten für die allfällige Beschießung des französischen Ziels sammeln können.

Paris wandte sich umgehend an die Nato, um eine Verurteilung Ankaras mit entsprechenden Sanktionen zu erwirken. Als Nato-Mitglied sperrte sich die Türkei dank Einstimmigkeitsprinzips erfolgreich dagegen. Generalsekretär Jens Stoltenberg ordnete darauf eine Untersuchung des Vorfalls an. Eine erste Fassung vermochte die französischen Vorwürfe nicht zu belegen. Erbost darüber setzte Paris seine Mitwirkung im Dispositiv Sea Guardian bis auf weiteres aus.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu forderte am Donnerstag eine "bedingungslose Entschuldigung" Frankreichs für seine Vorhaltungen. Der türkische Botschafter in Paris, Ismail Hakki Musa, wies vor einem französischen Parlamentsausschuss ebenfalls sämtliche Vorwürfe zurück. Zur Entlastung präsentierte er Fotos – worauf ein Sitzungsteilnehmer in der Zeitung Le Monde höhnte: "Das war, wie wenn ein Autofahrer Bilder seiner Scheinwerfer zeigt, um zu beweisen, dass er nicht gehupt hat."

Zahlreiche Vorwürfe

Wie auch immer der Zwischenfall vor der libyschen Küste einzustufen ist, spricht er Bände über die Spannungen im Ostmittelmeer. Angesichts des Stellvertreterkriegs in Libyen verschärfen sie sich laufend. Nicht nur Frankreich wirft der Türkei seit langem vor, Waffen und Söldner nach Libyen zu schmuggeln, obwohl ein Uno-Embargo das untersagt. Der Zwischenfall des 10. Juni erfolgte nicht zufällig, als die griechische, italienische und eben auch französische Marine den schweren türkischen Frachter Cirkin kontrollieren wollten. Als "Kin" getarnt steuerte er die libysche Stadt Misrata an. Die Europäer beriefen sich auf ihr Nato-Mandat zur Seeüberwachung (Sea Guardian), doch der türkische Kapitän verweigerte jede Inspektion.

Ankara behauptet, Ägypten, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und selbst Frankreich lieferten Waffen an den libyschen Rebellen Khalifa Haftar, den Widersacher des türkischen Schützlings Fayez al-Sarraj. Dieser libysche Premier verdankt seinen jüngsten militärischen Sieg über Haftar auch den 7000 syrischen Milizionären, die mit türkischen Schiffen nach Libyen gekommen waren.

Religiöse Komponente

Libyen ist heute zweigeteilt und weitgehend fremdbeherrscht. Den Westen mit al-Sarraj in der Hauptstadt Tripoli kontrollieren die Türken, den ölreichen Osten mit Haftar vorwiegend Russen über Söldnertrupps wie Wagner. Diese Spaltung erinnert immer mehr an das syrische Szenario.

Zumal im Hintergrund auch eine religiöse Komponente mitschwingt. Macron wirft dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor, er habe unter den syrischen Milizionären auch Muslimbrüder und andere Islamisten nach Libyen geschafft.

Macron behauptete diese Woche, Ankara trage eine "kriminelle Verantwortung" in Libyen. Innenpolitisch unter Druck, gerät der französische Präsident nun auch in Libyen zwischen die Fronten. Er versteht sich zwar als Vertreter europäischer Interessen, geht dabei aber auch eigene Wege. Anders als die Italiener pflegt er enge Kontakte zu General Haftar.

Heute stört sich Präsident Macron in erster Linie an der türkischen Intervention in Libyen. Damit einher gehe, so heißt es in Paris, der Anspruch Ankaras auf Gas- und Ölfelder im Mittelmeer, die teils in griechischen Wirtschaftszonen liegen. (Stefan Brändle aus Paris, 2.7.2020)