"Wir wissen nicht, wann wir die Tour wiederaufnehmen. Die Pandemie wird länger dauern, als wir annehmen."
Foto: imago images / Starface

Trotz seiner Größe versinkt Robert Lamm lümmelnd in einem tiefen Fauteuil. Seine auf den Lehnen ruhenden Hände sind riesig, seine Stimme ist sanft. In Jeans und coolen Turnschuhen wirkt er außerordentlich jugendlich für seine 75 Jahre. Er ist Keyboarder, Sänger und Komponist. Gesungen hat er schon als Bub in Kirchenchören. Als Jugendlicher gründete er 1967 mit ein paar Freunden die US-Rockband Chicago. Sie ist eine der am längsten bestehenden und meistverkauften Musikgruppen aller Zeiten und Mitglied der Rock and Roll Hall of Fame. 2017 wurde Robert Lamm in die Songwriter Hall of Fame aufgenommen.

STANDARD: Sie gelten als Ikone Amerikas, deswegen gleich zu Beginn eine politische Frage: Ist Amerika heute wieder "great"?

Lamm: Bis jetzt noch nicht. Mir gefiele "America is America again" besser. Das Land wurde auf Prinzipien gegründet – Freiheit und Gleichheit –, die nach wie vor gültig sind. Wo sie falsch sind, wurden und werden sie immer wieder korrigiert. Es war ein neues Experiment. Nach wie vor ist es ein Einwanderungsland, in dem man ein neues Leben beginnen kann. Das war es auch für meine Vorfahren. Sie stammten aus Deutschland, Irland und dem französischsprachigen Teil Kanadas. Leider hat sich, was Rassismus und Gleichberechtigung betrifft, nicht genug geändert. Die Ermordung von George Floyd, neben anderen Afroamerikanern, und der zusätzliche Druck, mit der Pandemie fertigzuwerden, während ein unfähiger Präsident weiterhin lügt, waren Nährboden für Proteste.

STANDARD: 1972 schrieben Sie das Lied "Saturday in the Park". Es wurde zu einer Hymne, die auch für den 4. Juli steht:

Another day in the park

I think it was the Fourth of July

People talking, really smiling

A man playing guitar

Singing for us all. Will you help him change the world

Can you dig it – yes, I can – And i’ve been waiting such a long time – for today."

Was verbinden Sie mit dieser Zeit und diesem Lied?

Lamm: In meiner Jugend hat es eine Revolution gegeben. Allein das Wort Revolution war für uns schon sexy. Natürlich strebten die damaligen politischen Aktivisten nach einer Revolution, die "das System" ersetzen sollte. Aber das Versprechen des Paradieses und des Friedens auf Erden war etwas, das wir alle inbrünstig für möglich hielten.

STANDARD: Sie sind auch bekannt für prägnante Songtexte. Vor kurzem erschien sogar ein Buch mit dem Titel "Robert Lamm Selected Lyrics". Wie kam es dazu?

Lamm: Ich habe eine umfangreiche Musikbibliothek, die ich oft anhöre. Manchmal kamen Lieder von mir, die ich meist übersprang, doch ich begann sie mir im Kontext zu meiner Vergangenheit und zu meinem jetzigen Leben anzuhören. So entstand die Idee zu dem Büchlein. Es ist für meine drei erwachsenen Töchter, mit denen ich ein inniges Verhältnis habe, obwohl wir in alle Winde verstreut leben. Ich wollte, dass sie mehr von meiner Geschichte und meiner Gefühlswelt erfahren.

STANDARD: "Out of the Blue" ist ein Lied über Terry Kath, das Sie 2011 schrieben. Wie hat sein Tod 1978 (Kath starb an einer versehentlich selbst zugefügten Schusswunde aus einer Waffe, von der er dachte, sie sei nicht geladen) die Band und ihre Arbeit beeinflusst?

Lamm: Terry war ein begabter, kreativer und dynamischer Mensch. Wir gründeten die Band gemeinsam und waren enge Freunde. Als er starb, war diese Energie in unserer Band plötzlich weg. Wir standen alle unter Schock. Wir überlegten, die Band umzubenennen, aber die Wahrheit ist, dass es keine andere Band wurde, sondern nur andere Leute, die Teil der Band wurden. Was wir taten, war, was die meisten Menschen in so einer Situation tun: Wir machten mit unserem Leben weiter. Über die Jahre habe ich viele Songs über Terry geschrieben. Diese Songs waren und sind Teil meiner Trauer, meines Verlustes. An manchen Tagen ist diese Trauer über seinen Abgang noch immer stark präsent.

STANDARD:Welche Songs schreiben Sie für Chicago, welche für Ihre Soloalben?

Lamm: Ich weiß nie, wo ein Song enden wird. Ich habe eine Stimme außerhalb von Chicago und arbeite auch immer wieder mit anderen Musikern und Songwritern, mit denen ich andere Richtungen erforsche und ausarbeite. Doch eigentlich ist es mein Idealzustand, Teil einer Band zu sein. Ich will meine Lieder singen und spielen und dann nach Hause gehen. Als Solokünstler muss man sich mit einem Stab von Managern umgeben und ist für alles verantwortlich. In erster Linie bin ich Musiker. Ich höre immer Musik, und ich liebe Musik und hoffe, immer etwas Interessantes und etwas Neues zu hören – etwas noch nie Dagewesenes. So wie Ray Charles oder die Beatles es für mich als Teenager waren.

STANDARD: Einer der ersten Chicago- Hits, war Ihr dynamisches Lied "25 or 6 to 4". Es ist eine Anspielung auf einen Songwriter, der versucht, 25 oder 26 Minuten vor vier Uhr morgens zu schreiben. Schreiben Sie jeden Tag? Haben Sie eine Routine?

Lamm: Früher hab ich bis zur Erschöpfung weitergearbeitet. Heute nehme ich nach einem Album eine Ruhepause. Während der Schreibphasen habe ich eine Routine; doch um zu schreiben, muss ich in Stimmung sein und Zeit haben. Dann klimpere ich irgendwie auf meinem Klavier herum, um zu sehen, was da ist, schaue mir unvollendete Stücke an und denke darüber nach. Einen Song entwickle ich immer zuerst musikalisch. Nach und nach, wenn ich die Musik lange genug in meinem Kopf herumgewälzt habe, bekomme ich ein Gefühl dafür, wovon der Song handeln wird. Dann erst kann ich die richtigen Worte dazu finden.

STANDARD: Ihr politisches Bewusstsein schrieb die Lieder der Siebzigerjahre. 1971 enthielt das Chicago-Cover zusammen mit vier Schallplatten eindringliche politische Botschaften darüber, wie "wir – die Jugend – das System verändern können", darunter Wandplakate und Informationen zur Wählerregistrierung. Wie ist das heute? Schreiben Sie noch immer politische Lieder?

Lamm: Mit zunehmendem Alter werde ich philosophischer. Etwas, nicht zynischer, aber zumindest realistischer, in Bezug auf die Menschheit. Ich bin sprachlos darüber, und es ist mir unverständlich, wie ausgerechnet ein Mann wie Donald Trump in diesem Land zum Präsidenten gewählt werden konnte. Aber es gibt andere Länder, in denen die Menschen ebenso wie ich über ihr Staatsoberhaupt denken, ob das nun Argentinien, Bolivien oder die Türkei ist. Es ist frustrierend und deprimierend.

STANDARD: Ich bin mir sicher, in Ihrer Jugend ging es wilder zu: der Vietnamkrieg, die Ermordung von Martin Luther King und den Kennedy-Brüdern, Rassenunruhen, Black Panther Movement ...

Lamm: Ich habe den Vorteil, so alt zu sein, wie ich bin. Die Dinge scheinen im aktuellen Moment immer schlimmer zu sein, als sie es je zuvor waren.

Lamm ist sprachlos über Trump als Präsident der USA.
Foto: imago/UPI Photo

STANDARD: Hat die heutige Zeit Ähnlichkeit mit der Zeit der Sechziger- und Siebzigerjahre, in der Sie jung waren?

Lamm: Was sich nicht verändert, sich sogar verschlimmert hat, ist der Grad an Korruption in jeder Regierung. Und Menschen zahlen den Preis dafür, sie sind auf der Flucht und obdachlos. Kinder ziehen in den Krieg. Was noch schlimmer ist: Wir erkennen, was wir unserem Planeten angetan haben, und wollen uns nicht damit befassen. Wir werden eine zunehmende Verwundbarkeit durch Pandemien erfahren.

STANDARD: Wie haben Sie die letzten Monate während des Corona-Lockdowns – Sie leben in Santa Monica – verbracht?

Lamm: In meinem ganzen Leben war ich noch nie so viel zu Hause! In vielerlei Hinsicht waren es wunderbar kreative Monate. Jim Peterik (Rockmusiker, dessen Hitsingle Eye of the Tiger war, Anm.) und ich schickten uns per Internet Texte und Melodien. Dabei entstand das Lied Everything Is Gonna Work Out. Es ging nicht speziell um die Pandemie, denn zu dem Zeitpunkt, als wir begannen, an einem Lied zu arbeiten, kannten wir dieses Wort noch nicht einmal. Es ging darum, ein wenig Hoffnung mit den Menschen zu teilen, gute Stimmung zu verbreiten und zu versuchen, die Menschen zu beruhigen. Während des Lockdowns hatte ich auch via Telefon und Internet die Zeit und Ruhe, meine Freundschaften zu pflegen. Klingt verrückt, aber so war es.

Robert Lamm"Selected Lyrics". Eine Sammlung von mehr als 30 Liedertexten, € 20,– / 100 SeitenMarmont Lane Books, 2019
Foto: Der Standard

STANDARD: Aufgrund der Pandemie musste Chicago im April die Tournee abbrechen. Wie groß war Ihre Enttäuschung?

Lamm: Nicht wirklich sehr groß. Nach zehn Wochen Tour will ich jedes Mal die Band verlassen. Jedes Jahr geht das so! Wie das Amen im Gebet. Meine Frau lacht mich schon aus, wenn ich wieder sage: "So. Jetzt ist Schluss. Ich habe genug. Ich habe mit Chicago abgeschlossen. Das war jetzt das letzte Mal, dass ich tourte." Natürlich mache ich das nicht. Ich liebe meinen Beruf und würde es vermissen. Wir wissen nicht, wann wir die Tour wiederaufnehmen können. Die Pandemie wird länger dauern, als wir alle glauben.

STANDARD: Sie waren viermal verheiratet. Wie kommt es, dass Sie diese eine solide Beziehung mit Chicago haben?

Lamm: So ist das nicht! Ich bin schon seit dreißig Jahren verheiratet. Es dauerte lange, bis ich erwachsen wurde, und ich bin noch immer nicht ganz fertig damit. Die Band besteht seit über fünfzig Jahren. Sie griff meine verrückten Musikideen auf, und wir setzten sie miteinander um. Noch immer ist es für uns als Band aufregend und inspirierend, ein Album aufzunehmen. Wir haben eine lange Karriere. Die Band ist ein interessantes Projekt, mit einem großen Repertoire. Wir nahmen Hunderte von Liedern auf. Wir haben ein Publikum – das zwar schrumpft, aber dafür sehr international ist. Millionen von Fans, die unsere Musik gehört haben. Das macht mir Mut. Es hat damals Mut gemacht und macht noch immer Mut. Wir sind ein Kammerorchester geworden, das Musik aus allen Epochen spielt.

STANDARD: Wie werden Sie in diesem Jahr den 4. Juli feiern?

Lamm: Wir, die Band Chicago, geben seit Jahren an diesem Tag ein Konzert. Manchmal sogar mit einem Symphonie-Orchester, und immer endet es mit einem Riesenfeuerwerk, wenn wir die Bühne verlassen. Dieses Jahr wird es nicht stattfinden können. Das macht mich traurig. In meiner Kindheit war der 4. Juli immer das größte Fest. Die ganze Nachbarschaft stand kopf. (INTERVIEW: Cordula Reyer, 4.7.2020)