Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat den 55-jährigen Jean Castex zum neuen Premierminister ernannt.

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Zuletzt ging alles blitzschnell. Während die französischen Medien noch rätselten, ob Emmanuel Macron eine kleine Regierungsumbildung vornehmen oder sogar seinen Premierminister austauschen würde, stellte ein Communiqué des Élysée-Palastes Klarheit her: Premier Édouard Philippe tritt mit seiner gesamten Regierung zurück. Die Entscheidung fällte Macron, der laut Verfassung Herr über sein Kabinett ist. Indem er die gesamte Regierung auswechselt, reagiert auf das Debakel bei den jüngsten Gemeindewahlen: Seine drei Jahre alte Partei La République en Marche (LRM) wurde von einer "grünen Welle" weggeschwemmt und eroberte keine einzige wichtige Stadt.

Macron hatte zuvor schon klargemacht, dass er sich "neu erfinden" wolle, um Frankreich aus der Corona-Krise zu führen. Philippes Nachfolger wird Jean Castex, ein Spitzenfunktionär und Lokalpolitiker aus den Pyrenäen, der einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt ist.

Édouard Philippe, der von konservativen Republikanern stammte, war laut Macron-Beratern kein Garant für einen politischen Neufang unter ökologischen Vorzeichen.

Sympathien gewonnen

Bei Macron dürfte allerdings auch ein persönliches Element mitgespielt haben. Philippe hatte mit einem soliden Vorgehen in der Covid-Zeit landesweit Sympathien gewonnen. Dem Staatschef war das offenbar ein Dorn im Auge: Pikiert erklärte er Journalisten der Zeitung "Le Monde", er selbst hätte es auch verdient, für seine "richtige Intuition" bei der Covid-Bekämpfung "politische Früchte einzuheimsen".

In Wahrheit wird Macron vorgeworfen, er habe die Corona-Krise zuerst verschlafen und dann überreagiert – mit 30.000 Corona-Toten und einer Wirtschaftslähmung als Folge. Philippe verzichtete hingegen bewusst auf das martialische Vokabular Macrons ("Wir sind im Krieg") und handelte sehr unaufgeregt und bedacht. Seit März nahmen seine Popularitätswerte stark zu, während der Staatschef in den Umfragen stagnierte.

Mehr Schauspieler als Politiker

Und das nicht nur wegen Macrons kurzsichtigem, ja impulsivem Verhalten gegenüber Covid-19: Wie schon in der Gelbwesten-Krise wechselte er auch in der Debatte über Rassismus und Polizeigewalt ständig und sehr abrupt seine Meinung. Auch in den letzten Tagen hatte man den Eindruck, dass im Élysée kein Politiker, sondern ein Schauspieler regiert: Am Tag nach seiner Wahlschlappe zeigte sich Macron gutgelaunt und lachend in der Öffentlichkeit, als ginge ihn das Wählerverdikt nichts an; und bevor er nun Premier Philippe in die Wüste schickte, lobte er seine "warmherzige und freundschaftliche, von einer perfekten Loyalität geprägte" Art.

Die Franzosen sind es zwar gewohnt, dass der Premier nur der – austauschbare – Sekundant des Staatschefs ist. So will es die Präsidialverfassung der Fünften Republik, die dem Machthaber im Élysée-Palast uneingeschränkte Autorität einräumt. Politisch aber kann Macron die Verantwortung nicht auf andere abschieben. Sein wenig kohärentes Verhalten in den jüngsten Krisen schlägt sich in den Umfragen nieder. Stets bereit zu jenen Politwinkelzügen, die er früher als "antiquiert" gebrandmarkt hat, will er sogar die Regionalwahlen 2021 verschieben – offiziell wegen Corona, in Realität aber eher, um vor den entscheidenden Präsidentschaftswahlen kein weiteres Wahlfiasko erleiden zu müssen.

Philippes Nachfolger Castex kann den tiefen Graben zwischen dem Élysée-Herrscher und dem Volk wohl nicht zuschütten. Das ist die andere Seite der französischen Verfassung: Bei den Wahlen spielt der Name des Premiers keine Rolle mehr – dann muss der Präsident seinen eigenen Kopf hinhalten.

Justiz ermittelt

Gegen Philippe und zwei weitere ehemalige Regierungsmitglieder hat die Justiz Untersuchungen wegen Vorwürfen in der Coronakrise eingeleitet, wie am Freitagabend bekannt wurde. Die Klagen wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung wurden unter anderem von Ärzten, Vereinigungen und Gefangenen eingereicht.

Die Anklagen richten sich neben Philippe gegen die ehemalige Gesundheitsministerin Agnes Buzyn und ihren Nachfolger Olivier Véran. Neun von zahlreichen Klagen seien für zuverlässig erklärt worden. Den drei Politikern wird fehlende Bekämpfung einer Katastrophe vorgeworfen. (Stefan Brändle aus Paris, APA, 3.7.2020)