Wolfgang Gerstl exekutiert die ÖVP-Parteilinie im Ibiza-Untersuchungsausschuss

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Egal wen man fragt, auf einen Satz können sich alle einigen: Wolfgang Gerstl ist als Fraktionsführer im Untersuchungsausschuss die optimale Besetzung für die ÖVP. Nur ob das ein Kompliment ist, darüber scheiden sich die Geister. Einen professionellen Parlamentarier, den man vielseitig einsetzen könne, sehen Parteikollegen in Gerstl, der seit mittlerweile neun Jahren im Nationalrat ist. Weniger schmeichelhaft beschreibt Neos-Fraktionschefin Stephanie Krisper die Qualifikation Gerstls für die Türkisen: "Er ist ein Diener seines Herrn. Er diffamiert jene, die die ÖVP in den Fokus nehmen, und versucht, die Fragen der Oppositionsabgeordneten zu behindern." Der 58-Jährige selbst begründet seine Eignung recht pragmatisch: Als Jurist und Beamter kenne er sich eben mit staatlichen Vorschriften und Abläufen gut aus. Vor allem aber müsse man für den U-Ausschuss oft in Wien sein, was sich mit seinem Wohnort am Wolfersberg, im Westzipfel der Hauptstadt, verträgt.

Polizist für mehr Gerechtigkeit

Auch der ideologische Weg war in Wolfgang Gerstls Leben nicht weit. Als er im niederösterreichischen Böheimkirchen aufwuchs, war sein Vater, der Leiter des örtlichen Postamtes, Gemeinderat für die ÖVP, später Seniorenbund-Obmann. Hört man Gerstl erzählen, welche Ungerechtigkeiten ihn als Burschen inmitten der 1970er-Jahre politisierten, bestätigt sich die historische Vermutung, dass der antiautoritäre Geist der 68er-Revolte in Österreich nicht allzu weit wehte. Nicht der Imperialismus, sondern ein Fischer, der wohl illegal zu viele Fische aus dem Bach holte, versetzte ihn in Empörung. Als die Gendarmen seine Anzeige trotz detailreicher Schilderung des Vorfalls desinteressiert abschasselten, beschloss Gerstl, selbst Polizist zu werden, um derartige soziale Missstände zu bereinigen. Nach einigen Jahren bei der Polizei begann er neben dem Job ein Jus-Studium, um dieses Ziel auf höherer Ebene verfolgen zu können.

In seiner raren Freizeit fand er Anschluss an die katholische Studentenverbindung Norica. "Die Norica war damals die liberalste und am wenigsten traditionalistische Verbindung im Cartellverband", erinnert er sich. Das Prinzip "scientia" (Wissenschaft) sei dort wichtiger gewesen als die Religion, er selbst sei auch "Wissenschafts-minded".

Von der Parteilinie abgewichen

Im Nationalrat eilt dem fünffachen Vater allerdings der Ruf eines "erzkatholischen und stockkonservativen" Politikers voraus, wie es ein roter Ex-Mandatar aus Wien formuliert – nicht ohne verschmitzt auf Gerstls Leben in zweiter Ehe hinzuweisen. Der frühere ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka sagt über seinen Kollegen Ähnliches, aber mit anderen Worten: "Er ist werteorientiert und grundsatzfest." Lopatka denkt an eine Diskussion im ÖVP-Klub zur Zeit der rot-schwarzen Koalition 2015 zurück, als Gerstl es mit drei anderen Abgeordneten aus Gewissensgründen ablehnte, das Fortpflanzungsgesetz der Regierung zu unterstützen und im Einklang mit der Klublinie zu stimmen. Das Gesetz erlaubte etwa lesbischen Paaren die künstliche Befruchtung, gestattete die Eizellenspende und brachte Lockerungen bei der Präimplantationsdiagnostik.

Förderer Michael Spindelegger

Eine Karriere als Polizeijurist schien dem Jus-Absolventen zunächst verbaut, weil das Innenministerium in den 80ern eine "rote Domäne" gewesen sei, wo man ohne SPÖ-Parteibuch nichts habe werden können. Nach einer Stelle im Wissenschaftsministerium kam Gerstl auf Betreiben seines Förderers Michael Spindelegger, ebenfalls Mitglied der Norica und späterer ÖVP-Chef, ins Verteidigungsressort unter Robert Lichal (ÖVP). "Dort habe ich schnell politische Intrigen kennengelernt", sagt Gerstl. Damit gemeint sind die später eingestellten Ermittlungen der Justiz gegen Lichal und Spindelegger, denen in der Oerlikon-Affäre Untreue wegen der Beschaffung überteuerter Munition vorgeworfen wurde. Auch verbotene Parteifinanzierung stand im Raum. "Da habe ich mitbekommen, wie vonseiten der Staatsanwälte und Untersuchungsrichter gearbeitet wird, wenn sie jemanden aufs Korn nehmen wollen. Das zu erleben hat mich geprägt, weil ich gesehen habe, wie man Leute ruinieren kann mit konstruierten Anschuldigungen, die sich am Ende als falsch herausstellen."

Zielscheibe WKStA

Die Parallelen zwischen Gerstls rückblickender Wut auf das Verfahren und den Attacken des Kanzlers auf die vermeintlich parteiischen Korruptionsstaatsanwälte in einem Hintergrundgespräch zu Jahresbeginn drängen sich förmlich auf. Nicht verwunderlich, dass Gerstl mit dieser Haltung im Rahmen des U-Ausschusses allenthalben gegen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) agitiert, die auch die türkisen Anteile am mutmaßlichen Postenschacher der Kurz-Strache-Regierung ins Visier nimmt.

Ein wiederkehrendes Motiv in Gerstls Vita: Kritik an der vermeintlich parteiischen Ermittlung von Staatsanwälten
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In Aussendungen ereifert er sich beispielsweise über "haltlose Anschuldigungen" der WKStA gegen die polizeiliche Soko Ibiza und spekuliert über undichte Stellen in der Behörde. Am Donnerstag verlangte seine ÖVP-Fraktion die Ladung der WKStA-Chefin vor den Ausschuss.

Leiter der österreichischen Interpol-Zentrale

Dass Gerstl der Soko des Innenministeriums die Mauer macht, ist auch aus seiner persönlichen Laufbahn erklärbar. Mit der Übergabe von Lichal an Werner Fasslabend (ÖVP) im Verteidigungsministerium im Jahre 1990 wurde Gerstl sieben Jahre lang dessen Büroleiter und befasste sich mit internationalen Sicherheitsstrategien. Danach versuchte er sich als Landesgeschäftsführer der Wiener ÖVP, blieb darin aber politisch erfolglos und wurde 2001 unsanft aus der Position entfernt.

Anschließend dockte er beim Bundeskriminalamt im Innenministerium an und stieg bis zum österreichischen Leiter der Interpol auf. Klingt zwar nach spektakulärer Verbrecherjagd, tatsächlich ging es mehr um Themen wie die Harmonisierung nationaler Polizeidatenbanken, etwa bei der Registrierung von Reisepässen. Obwohl Gerstl seit 2011 hauptberuflich im Nationalrat sitzt, ist er weiterhin als Jurist im Innenministerium beschäftigt, was ihm die FPÖ als Befangenheit ankreidet. Dem STANDARD teilte er mit, etwas mehr als 3500 Euro brutto monatlich aus dem Ministerium zu beziehen.

Gerechte Störung von Fragen

Wenn jemand die Kollegen von der Polizei kritisiert, kann Gerstl fuchsig werden, wie Journalisten am Rande des U-Ausschusses beim Pressestatement von Karl Nehammer (ÖVP) erleben durften. Als Falter-Chefredakteur Florian Klenk vom Innenminister dessen Einschätzung des Verhaltens eines ÖVP-affinen Polizisten in der Schredderaffäre erfahren wollte, grätschte Gerstl dazwischen, um die Frage als "unrichtig" zu bezeichnen. So ganz einsehen, dass man sich als Politiker nicht in die Fragen der Journalisten einzumischen hat, will Gerstl bis heute nicht. Er sei nur wegen der Corona-bedingten Raumteilung inmitten der Journalisten gestanden, seine Störung stilisiert er zum Ausbruch tugendhafter Empfindsamkeit: "Das hat mein innerstes Gerechtigkeitsgefühl nicht zugelassen. Das war so was von unfair, dass der Mensch, der es besser wissen müsste, den Innenminister auf derart unterstellende Weise fragt."

In Penzing von Haus zu Haus

Erst durch seine Präsenz im U-Ausschuss im vergangenen Monat ist Gerstl einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt ein Begriff geworden, auf Bundesebene ist er sonst unauffällig. In Penzing, dem 14. Wiener Bezirk, ist er hingegen schon seit fast 25 Jahren Parteiobmann und dort für sein Engagement um persönlichen Wählerkontakt bekannt, wofür er auch einmal anläutend durch die Siedlungen tourt. Sein Leibthema ist seit vielen Jahren der Erhalt des Otto-Wagner-Areals auf den Steinhofgründen. Mehr Hausbesuche als alle anderen Bezirkspolitiker will er in Wien gar absolviert haben. Spricht er über seine Erfolge im Wahlkreis, verfällt Gerstl bisweilen der merkwürdigen Politikerkrankheit, über sich in der dritten Person zu sprechen, exemplarisch: "50 Prozent der ÖVP-Wähler haben Vorzugsstimmen für Wolfgang Gerstl abgegeben." Den Bezirksvorsteher stellt in Penzing unterdessen stets die SPÖ.

Auf die Sozialdemokraten und auch die Neos im U-Ausschuss ist der ÖVP-Fraktionsführer derzeit besonders schlecht zu sprechen. Er befürchtet, dass eine parlamentarische Minderheit das Kontrollinstrument "missbraucht, um parteipolitisches Kleingeld zu wechseln". Die Performance der Grünen, die bei Befragungen von ÖVP-nahen Beamten und Kanzler Kurz recht hart fragten, will Gerstl lieber "nicht beurteilen". Als Regierungsfraktionen rede man freilich regelmäßig miteinander. Beweis dafür: DER STANDARD musste im Zuge des Interviews mit Gerstl das ÖVP-Klubkammerl für eine halbe Stunde räumen, weil dieser dringlich etwas mit der grünen Fraktionsführerin Nina Tomaselli zu bereden hatte. (Theo Anders, 4.7.2020)