Als Yannick nachts um drei nackt durch den Sand rennt, um sich ins warme Meer zu stürzen, ist der Ballermann 6 für kurze Zeit fast wieder so wie sonst. Luisa rennt nun auch in Unterwäsche ins Meer, ihr Freund ist schon drin, und Lars trottet auch rein. Marco und Kyra, die sich gestern kennengelernt haben, küssen sich. Die meisten am Strand sind zwischen 19 und 25 Jahre alt und kannten sich 48 Stunden zuvor noch nicht. Suff und Sorglosigkeit sind jene Mischung, die hier schon immer für magische Augenblicke sorgte.

Als Yannick irgendwann wieder aus dem Wasser kommt, findet er seine Calvin-Klein-Unterhose nicht im Sand. Dabei ist sie eigentlich nicht zu übersehen. Luisa trocknet sich mit einem der T-Shirts ab, die man in den Bars zu jedem Liter Wodka-Lemon geschenkt bekommt. Dann wird überlegt, wo man jetzt noch weiterfeiern könnte. "Ich hab noch Weißwein im Hotelzimmer", sagt Kyra. Alle finden das eine passable Möglichkeit und laufen Richtung Tres Torres. Doch eigentlich ist der Ballermann 6 überhaupt nicht wie sonst: Die Discos geschlossen, die Kneipen haben Sperrstunde und die Promenade, an der normalerweise bis zum Sonnenaufgang gefeiert wird, ist selbst am Wochenende menschenleer.

Der Wurstkaiser vor dem Mega-Park bekommt in der Zwischenzeit einen neuen Anstrich.
Foto: Nora Reinhardt

Mitte März war der letzte normale Partyabend an der Playa de Palma auf Mallorca, dann mussten von heute auf morgen alle Discos schließen, damit sich das Coronavirus nicht ausbreitet. Die Insel war in einem dreimonatigen Dornröschenschlaf, ehe sie Mitte Juni wachgeküsst wurde. Testtouristen wurden in einen Sangria-Flieger gesteckt, damit sie ausloten, wie Massentourismus zu Coronazeiten aussehen könnte. Seitdem befindet sich Mallorca in einem seltsamen Dämmerzustand, irgendwo zwischen verschlafen und hellwach. Und die, die kamen, versuchen nun herauszufinden, wie man sich hier amüsieren kann.

Wochenendtrip, als wäre nix

Yannick, Nico, Marco, André und Lars sind aus Cuxhaven angereist, um von Donnerstag bis Sonntag zu feiern – obwohl ihre Flug- und Hotelbuchung zunächst storniert wurde: "Scheiß drauf", haben sie sich gedacht, erzählt Nico, und neu gebucht. Kyra und Leon kommen aus Nordrhein-Westfalen, Leon ist auch die nächsten zwei Wochenenden hier. Er liebt Billigflüge. "Für den Rückflug habe ich gleich zwei Flüge gebucht, mal sehen, welchen ich nehme."

Vor der Einreise muss man angeben, ob man kürzlich im Krankenhaus oder auf "Märkten mit lebenden Tieren" war. Das könnte man als diskriminierend gegenüber Viehhändlern und Ärzten auslegen, soll aber wohl dazu dienen, das Corona-Risiko einzuordnen. Dann läuft man an einer Wärmebildkamera vorbei, und sofern man kein Fieber – eines der Covid-19-Symptome – hat, kann man einreisen und bekommt ein Merkblatt mit Verhaltensregeln.

Die Promenade von Palma de Mallorca ist leer.
Foto: Nora Reinhardt

Blitzbesuch von Königs

21 Menschen und ein Flamingo zum Aufblasen, mehr ist am Freitagnachmittag an der Playa nicht los. Der Supermarkt mit Gittern verrammelt, das rostige Tor heruntergerollt, eine Bude bekommt einen Anstrich. Lediglich zwei Läden haben zwischen Balneario 3 und 6 geöffnet: das stylische Restaurant Chalet Siena und eine Würstelbude. Peter (79) ist ein schlanker Deutscher, der die Insel seit vierzig Jahren kennt und am Balneario 2 wohnt. Er sagt: "So leer ist es hier nicht einmal im Winter."

Die Tristesse an der Playa de Palma hat am Vortag auch das spanische Königspaar Felipe und Letizia gesehen. Ihr Blitzbesuch sollte Werbung für Mallorca als Urlaubsziel machen. Badegäste plauderten mit ihnen und knipsten Selfies aus der Entfernung. Es wäre ein Leichtes für Paparazzi gewesen, den echten König vor dem Schriftzug "Bierkönig" abzulichten – an der Promenade tragen etliche Geschäfte deutsche Namen wie "Wurstkaiser" oder "Bierkönig". Eine verschenkte Fotogelegenheit.

Das Königspaar zu Besuch auf Mallorca.
Foto: EPA/BALLESTEROS

Karrierebremse Corona

Die Eventgaststätten Bierkönig und Mega-Park sind die wichtigsten Lokale hier. Normalerweise feiern dort pro Tag tausende Menschen. Ein Ortsbesuch im geschlossenen Bierkönig. Tausende Stühle und Tische sind zusammengestellt. Der Pressechefin Kristin Langer (32) ist es peinlich, dass die Wasserflasche warm ist und die Tische eingestaubt sind – das letzte Mal wurde hier vor 3,5 Monaten gewischt. Wenn jeder der 10.000 Gäste pro Tag hier für 50 Euro konsumiert, kann man leicht ausrechnen, dass dem Bierkönig momentan eine halbe Million Umsatz pro Tag fehlt.

Wie hart trifft die Schließung das Partylokal? Kristin Langer sagt, dass die mehr als 100 Mitarbeiter in Kurzarbeit seien. Und "junge, aufstrebende Schlagersänger mussten wieder in ihre bürgerlichen Berufe zurückgehen". Große Karrieren, zerstört durch Corona. "Wir hatten allerdings sehr gute Jahre, da wäre es schlimm, wenn wir nicht ein schlechtes Jahr verkraften können." Ansonsten bereitet man sich auf eine Wiedereröffnung mit unbekanntem Datum und weniger Gästen vor. "Wenn man ganz ehrlich ist, werden wir bei der Einhaltung der Regeln wohl ein paar Augen zudrücken müssen. Sonst müssten wir an jeden Tisch einen Security stellen."

Bierkönig-Pressechefin Kristin Langer: "Wir werden ein Auge zudrücken".
Foto: Nora Reinhardt

Dass mehrere Menschen aus einem Glas trinken, gemeinsam tanzen und schwitzen, ist genau das, was vermieden werden soll. Aber eben auch genau das, was die Touristen anlockt und viel Geld nach Mallorca bringt. Ein Dilemma. Kristin Langers Albtraum? "Dass es bei uns ein zweites Ischgl gibt." Allein der Imageschaden wäre verheerend. Ein Freund von Kristin Langer ist DJ und legt zur Skisaison in Österreich auf. "Er kam aus Sölden gerade noch mit dem letzten Flieger zurück. Meine Nachbarn haben gegrillt – er hat den Geruch aber gar nicht wahrgenommen", erzählt Langer. "Er hatte den Geruchsverlust, der typisch für Covid-19 ist", so Langer. Getestet wurde er bislang nicht, weil bei der Hotline tagelang niemand ranging.

Mickie Krause ist nachdenklich

Viele denken, dass der balearischen Regierung die Sache mit Corona zupasskommt. Seit Jahren kämpfen balearische Politiker gegen den Exzesstourismus, 2016 sollte sogar einmal eine knallharte "Verordnung für zivilisiertes Miteinander" durchgesetzt werden. Vergeblich, aber das "Eimersaufen" wurde trotzdem verboten.

Die balearische Ministerpräsidentin Francina Armengol (48) äußert sich immer wieder negativ über den Partytourismus: "Diese Art des Tourismus interessiert uns nicht. Wir wollen einen verantwortlichen und qualitativ hochwertigen Tourismus."

Glaubt Langer, dass die Politiker den Partytourismus langsam sterben lassen wollen?"Auf jeden Fall", sagt Langer, "Sie können alles auf Corona schieben und sagen, sie können nichts dafür." Mickie Krause (50), einer der intelligenteren Stimmungssänger auf Mallorca, sieht das genauso. "Die Politik möchte den Bierkönig und den Mega-Park ausbluten lassen, weil Mallorca das Miami Europas werden soll. Aber die gehobeneren Touristen kommen auch nicht wieder, wenn die Feierkomponente fehlt." "Schmuddeltouris" wie früher gebe es sowieso nicht mehr. "Die Abiklassen kommen schon lange nicht mehr, und auch die Hotels sind in den letzten Jahren schöner geworden." Dass es am Ballermann wieder so wie früher wird, glaubt er, der im Mega-Park auftritt, nicht: "Es muss nur einen Corona-Positiven geben und alles wird wieder wie im März heruntergefahren. Und dann muss man sehen, ob das noch wirtschaftlich für die Discos ist."

Kristin Langer sieht ein weiteres Problem: "Die Politik müsste erst einmal sicherstellen, dass die gehobenen Touristen nicht ausgeraubt werden. Es gibt hier ‚Klauhuren‘: Frauen, die Männer umzingeln und bestehlen." Auch bulgarische Diebesbanden gebe es. "Da würde ich mir Unterstützung von der Polizei wünschen", sagt Langer. Die stehlenden Damen, so scheint es, sind momentan aber auch in Kurzarbeit.

Am Strand liegen wieder erste Touristen – teilweise sogar mit Mund-Nasen-Schutz.
Foto: Nora Reinhardt

Der Exzess will geplant sein. Die fünf Jungs aus Cuxhaven haben einen Tisch für 15.30 Uhr in jenem Lokal reserviert, wo am Vorabend ein DJ auflegte. Sogar eine Polonaise gab es, von der ein Video auf Facebook kursiert. Keiner weiß, wer es aufgenommen hat. Polonaise ist verboten und könnte den Laden, in dem zwar keiner Masken trägt, aber ein Desinfektionsspender am Eingang steht, einiges kosten.

Daher ist DJ Jürgen Brosda am Freitagabend damit beschäftigt, die Gäste erst aufzuheizen und gleich wieder runterzukühlen. "Immer schön sitzen bleiben", sagt er, und irgendwann: "Ihr könnt gerne tanzen, aber nicht hier." Und tatsächlich springen sieben Frauen vom Nebentisch auf, um am Platz vor der weißen Kirche kurz vor Mitternacht zu tanzen. Am Tisch teilt Yannick seinen Strohhalm mit einem Mädchen und beschwört: "Ich hab nix." Na dann. Corona, die Aerosole und das Tragen einer Maske sind jetzt ganz weit weg.

Ein Tobias kommt herein, der die Cuxhavener Jungs kennt und der wiederum Luisa und den anderen Yannick mitbringt, ehe Kyras Tinder-Match Alex reinschneit, der gerngesehener Gast ist, da er eine Lautsprecherbox dabei hat. Kyra ist mit ihren Freunden Leon und Korbinian da. Die Gruppe wird schnell größer, bald feiert ein Dutzend zwanzigjähriger Urlaubsbekanntschaften gemeinsam. Der DJ hat sich unter "Jürgen"-Sprechchören pünktlich verabschiedet. Egal, mehr als ein Smartphone und eine Box braucht man nicht für eine Party. Mit der Sperrstunde sieht man es in manchen Kneipen nicht so genau. Die Polizei wäre direkt nebenan, kontrolliert aber nicht, ob die Regeln eingehalten werden.

An der Playa sitzen nachts Angler, sie hätten gerne ihre Ruhe. Das ist das Absurde an Mallorca. Es zieht derzeit nur die ganz Ruhigen und die ganz Feierhungrigen an. Die kommen aber recht gut aneinander vorbei. Die einen gehen morgens um sieben Uhr ins Bett, die anderen stehen da gerade auf, um sich zu sonnen oder zu segeln.

Am nächsten Abend wird wieder ab Nachmittag getrunken, abends treffen sich die neuen Freunde im Münchner Kindl und im "Aber hallo", danach geht es wieder zum Strand. Exzessroutine. Der Rhabarberschnaps fließt, als ein Mädchen vor der Kneipe auf die Straße pinkelt und plötzlich ein Bus auf sie zurast. Sie kann sich, in der Hocke, gerade noch an den Straßenrand retten. Lautes Gelächter hallt über die Carrer del Llaüt, die ansonsten ganz still ist. (Nora Reinhardt, 4.7.2020)