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Wie Hobbits im Land der Riesen leben die Menschen auf dem Kolonialplaneten Hella, denn alles hier ist "hella bigger". Da die Schwerkraft ein entscheidendes kleines Bisschen geringer ist als auf der Erde, wachsen die einheimischen Atlasbäume hunderte Meter hoch in den Himmel und die importierten Rosen tragen Blüten wie Medizinbälle. Carnosaurier im Godzillaformat stürzen sich mit ihren zwei Meter langen Reißzähnen auf noch viel größere Supersauropoden, die passend als Leviathane bezeichnet werden. Deren Maße werden zwar nie explizit angegeben, aber wir können sie uns erschließen: Fünfmal so groß wie die Rollagons seien sie, jene Panzerfahrzeuge, mit denen die Kolonisten durch die Wildnis fahren – und die haben die Größe fünfstöckiger Häuser.

Dass die Siedler alljährlich in Rollagon-Konvois zwischen Sommer- und Wintercamp migrieren wie Zugvögel, liegt daran, dass auch das Wetter auf Hella XXL-Format hat: Winterstürme kommen mit 600 km/h angefegt, und einen wirklich kalten Tag erkennt man daran, dass morgens am Boden Kohlendioxidfrost glitzert. – So langsam mag man jetzt den Eindruck gewinnen, dass es sich bei Hella um eine wahre Höllenwelt handeln würde, doch weit gefehlt: David Gerrold beschreibt hier mit viel Liebe zum Detail ein fantastisches Ökosystem, dem sich die Kolonisten längst innig verbunden fühlen. Um keinen Preis der Welt würden sie ihre Supersize-Welt gegen ein Leben auf der kaputten, übervölkerten Erde eintauschen.

Perfekt gewählter Ich-Erzähler

Wir lernen diese Welt mit den Augen Kyle Martins kennen, eines nach irdischen Maßstäben 13-jährigen Jungen mit einer neurologischen Besonderheit. Eine genaue Bezeichnung seines Syndroms wird nie genannt, es dürfte aber irgendwo im Autismus-Spektrum liegen: Kyle mag keine Berührungen, hat Probleme damit, Humor und generell emotionale Nuancen zu erkennen, dafür verfügt er über ein fast schon enzyklopädisches Wissen. Seit Jahren trägt er einen sogenannten Kompensator-Chip im Kopf, der sein Denken dem seiner Mitmenschen ähnlicher machen soll. Aber alles in allem ist er vollauf damit zufrieden, wie er ist: "I like being me. It's fun to know things."

Mit Kyle hat Gerrold einen perfekt auf seine Geschichte zugeschnittenen Erzähler geschaffen. Kyles Besonderheit macht ihn zum idealen Kandidaten dafür, einer neuen Welle von Kolonisten, die gerade im Orbit um Hella eintrifft, ihre neue Heimat näherzubringen. Kyle produziert eine Reihe von Videos über die Natur des Planeten und die Gesellschaft, die sich hier in gut einem Jahrhundert Siedlungsgeschichte entwickelt hat. Und mit derselben Liebe zu ungeschönten Fakten, mit der diese Videos produziert werden, wird auch uns Lesern der Roman erzählt.

Die ganze erste Hälfte des Buchs ist eine einzige ausführliche Beschreibung der Umwelt und all der täglichen Arbeit, die nötig ist, um darin zu überleben (etwas, das ich in M. R. Careys "Book of Koli" vermisst habe). Kein Kriminalfall, kein Kriegsszenario, kein kosmisches Rätsel oder all die anderen konventionellen Plot-Driver eines Planetenabenteuers. Stattdessen dürfen wir uns zurücklehnen und in eine fremde Welt eintauchen – so muss man im 19. Jahrhundert Bücher über exotische Länder gelesen haben, als noch nicht jedes Landschaftspanorama, jedes seltsame Tier und jede fremdartig anmutende Folklore schon tausendmal über den Fernseher geflimmert ist. Und es ist wirklich faszinierend, wie viele Facetten nach hunderten Seiten immer noch neu dazukommen, um in Summe das Bild einer in sich stimmigen Welt zu erschaffen.

Munter erzählt

Sollte jemand Angst haben, dass Kyles halbdokumentarische Erzählweise langweilig werden könnte, dann müsste ihn ein Blick auf das bisherige Schaffen des Autors beruhigen: David Gerrold hat nicht nur die Tribbles für "Star Trek" erfunden, sondern auch mit Larry Niven den humoristischen SF-Roman "Die fliegenden Zauberer" geschrieben und mit "The Man Who Folded Himself" ("Zeitmaschinen gehen anders") einen der originellsten Zeireiseromane ever vorgelegt.

Der muntere Witz, der sich durch Gerrolds ganzes Schaffen – mal mehr, mal weniger – zieht, blitzt auch hier immer wieder auf. Etwa wenn die Kolonisten das große Wanderungsfest feiern und geschminkt und kostümiert bejubeln, wie furzende Supersauropoden an ihrer Siedlung vorbeiziehen (und zugleich hoffen, dass ihnen diese nicht die Palisaden niederstampfen). Oder wenn Kyle auf Erkundungsmission einen Schutzhelm aufsetzt, der mit riesigen Linsenaugen, einem verlängerten Nasenteil und zwei schräg abstehenden Parabolantennen versehen ist. Mit anderen Worten: der ihn wie Micky Maus aussehen lässt.

Eher unfreiwillig komisch ist hingegen, wie das Modethema Genderfluidität hier bis ins Lächerliche weitergetrieben wird: Selbst präpubertäre Kinder können sich auf Hella aus einer bloßen Laune heraus aufs andere Geschlecht umoperieren lassen, was gesundheitlich und psychologisch offenbar so trivial sein soll wie ein neuer Haarschnitt. Das ist freilich der einzige nicht durchdachte Aspekt an "Hella", spielt aber trotz wiederkehrender Erwähnung für die Handlung ohnehin keine Rolle.

Trouble in paradise

Und apropos Handlung: In der zweiten Hälfte des Romans werden dann auch diejenigen bedient, die auf einem konventionelleren Plot bestehen. In der Kolonie kommt es zu einem schleichenden Putsch, weil einer aus der Führungsriege nicht mit der gegenwärtigen Politik einverstanden ist und wenig Skrupel hat, seine Ideen zur Geltung zu bringen. Der daraus entspringende Kampf der Aufrechten gegen den Fiesling läuft sehr ehrenwert ab, allerdings auch ein bissel umständlicher als notwendig. Anders als in der ersten Hälfte ist mir in diesem Teil zum ersten Mal aufgefallen, dass "Hella" nicht das kürzeste aller Bücher ist.

Wesentlich interessanter fand ich als langjähriger Fan des Autors, dass mit der neuen Kolonistenwelle auch ein paar Charaktere aus Gerrolds früherem Schaffen wiederkehren. Die Dingillian-Geschwister waren die Hauptfiguren einer Trilogie ("Jumping Off the Planet, "Bouncing Off the Moon" und "Leaping to the Stars"), die von 2000 bis 2002 erschienen ist. Schön, die Erdflüchtlinge endlich am Ziel zu sehen! Und mit einem weiteren Protagonisten tauchen wir sogar noch viel tiefer in die Vergangenheit ein: 1972 veröffentlichte Gerrold den Roman "When HARLIE Was One" ("Ich bin HARLIE") um eine Künstliche Intelligenz, die sich ihrer selbst bewusst wird. Jetzt kehrt HARLIE in upgedateter Version wieder und hat einmal mehr große Lust, die menschliche Gesellschaft ein bisschen aufzumischen – zu ihrem Besten übrigens, er ist ja nicht Skynet.

Dieser literarische Brückenschlag über ein halbes Jahrhundert passt auch irgendwie zum langfristigen Denken der Hella-Siedler. Anfangs wundert man sich noch darüber, dass die Kolonisten nach einem Jahrhundert in der neuen Heimat immer noch darauf bedacht sind, Kreuzkontamination zu vermeiden, und dass Kyle immer wieder betont, wie wenig man noch über die Ökologie von Hella wisse. Irgendwie schwache Leistung für die lange Zeit, denkt man unwillkürlich. Doch das gehört zur Philosophie des Realismus. Einmal hält Kyle ein – für seine Verhältnisse – leidenschaftliches Plädoyer für die Geduld; in der Realität würden die Dinge eben nicht so schnell laufen wie im Fernsehen. Real life on Hella isn't a movie. It isn't fast, it isn't easy – it's hard and frustrating and wonderful and amazing.