Der "Fall Gabriel", der fast täglich neue Kontroversen in den deutschen Medien auslöst, dürfte den Niedergang der SPD, der 157 Jahre alten Traditionspartei, beschleunigen. Worum geht es? Am Donnerstag war bekannt geworden, dass der langjährige einstige Vizekanzler (2013– 2018) und SPD-Vorsitzende (2009–2017) Sigmar Gabriel für den skandalumwitterten deutschen Fleischkonzern Tönnies von März bis Mai 2020 als Berater mit einem Pauschalhonorar von 10.000 Euro im Monat tätig war. Im Stammwerk des Konzerns hatten sich im Juni weit mehr als 1000 Beschäftigte, überwiegend aus Osteuropa, mit dem Coronavirus infiziert. Gabriel beendete seine Tätigkeit übrigens bereits Ende Mai wegen einer schweren Operation.

Sigmar Gabriel pocht darauf, dass er kein Politiker mehr sei.
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Dass Gabriel, der Anfang 2015 damals noch als Bundeswirtschaftsminister das System der Ausbeutung in der deutschen Fleischindustrie als "Schande für Deutschland" bezeichnet hatte, für ein so großes Unternehmen, noch dazu bis heute mit üblen Arbeitsbedingungen und sehr niedrigen Löhnen, tätig gewesen war und dass er diese Tätigkeit nicht öffentlich gemacht hatte, wurde von zahlreichen führenden SPD-Politikern empört verurteilt. Der 60-jährige Politiker, der bis November 2019 Abgeordneter im Bundestag gewesen war, verteidigte sich in mehreren Interviews. Er sei kein Politiker mehr, und außerdem könne er nicht ohne weiteres Geschäftsgeheimnisse eines Unternehmens preisgeben. Befremden löste bei den Genossen seine Bemerkung gegenüber dem "Spiegel" aus: "Für normale Menschen sind 10.000 Euro viel Geld. Aber in der Branche ist das kein besonders hoher Betrag." Darauf antwortete die SPD-Politikerin Hilde Mattheis, im gleichen Unternehmen arbeiteten Menschen "unter unsäglichen Bedingungen" und "zu einer wahnsinnig schlechten Bezahlung".

Lukrativer Absprung

Indessen wies Gabriel neue Vorwürfe zurück, wonach er als Bundesminister den umstrittenen Fleischunternehmer Clemens Tönnies vor einer Millionenstrafe bewahrt haben soll. Diese erhob ein mit dem Konzernchef verfeindeter Neffe in einem öffentlich bekannt gewordenen Brief. Wie dem auch sei, entpuppt sich der Ex-Parteichef immer mehr als eine Belastung für die einstige Arbeiterpartei mit schlechtem Gewissen. Laut den aus dem Jahr 2009 stammenden Zahlen waren bereits damals nur 16 Prozent der Mitglieder Arbeiter (1966 waren es noch 32 Prozent).

Jetzt pocht Gabriel, dessen Berufung in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank in diesem Jahr bereits viel Kritik ausgelöst hat, darauf, dass er kein Politiker mehr sei. Im März veröffentlichte er allerdings mit großem Tamtam sein neues Buch mit politischen Aussagen: "Mehr Mut! Aufbruch in ein neues Jahrzehnt". Die ganze Gabriel-Affäre zeigt, vor dem Hintergrund des lukrativen Absprungs des Ex-SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zur russischen Gazprom-Tochter Nord Stream, wie treffend die Analyse des deutschen Eliteforschers Prof. Michael Hartmanns ist. Auch die SPD-Elite lebe in einer völlig anderen Welt und entferne sich immer mehr von der normalen Bevölkerung ("Die Abgehobenen", 2018). Mit seiner Doppelmoral schafft Gabriel in einer kritischen Situation günstige Voraussetzungen für den weiteren Aufstieg der rechtsradikalen AfD. (Paul Lendvai, 7.7.2020)