Da steht er, keine Minute zu spät, dunkles Brillengestell auf der Nase, Aktentasche in der Hand. Es war zu erwarten, dass Thomas Harbich pünktlich zum Stadtspaziergang erscheint. Der gebürtige Wiener ist ein Mann der Zahlen, ein Faktensammler mit Sinn fürs Kuriose.

Harbich ist zwar erst 32, doch er kennt die Stadt besser als manch älteres Semester. Mit der Zuverlässigkeit eines Schweizer Uhrwerks twittert der Wiener seit fünfeinhalb Jahren jeden Abend um 20.30 Uhr Infohäppchen zur Bundeshauptstadt, versehen mit dem Hashtag #WienFakt. Bis heute hat er nahezu 2100 Wien-Fakten in die Twittersphäre gejagt.

Für unser Treffen hat er sich eine Route durch die Innenstadt überlegt, eine Spurensuche nach interessanten Stadtdetails. Da wäre auch schon was! Am Wienfluss, Höhe Kleinmarxerbrücke, beugt sich Harbich übers Geländer und deutet auf die Straßensperren aus Beton, die im Wasser herumliegen. "Ein Brutplatz für Schwäne, von der Stadt Wien eingerichtet." Normalerweise hänge ein Schild da, das auf die Tiere hinweist. Zum Beweis für die Existenz mailt er zwei Tage später ein älteres Foto der Hinweistafel.

Am liebsten recherchiert Thomas Harbich für seine #WienFakt-Tweets in der Wienbibliothek im Rathaus. "Ein herrlicher Ort", sagt der 32-jährige Wiener.
Foto: Robert Newald

Harbich nimmt die Sache ernst. Sogar wenn er wegfährt, füttert er den #WienFakt-Account. "Dann gibt’s Spin-offs aus St. Pölten oder Bregenz." Wäre ja gelacht, wenn ihm ein Urlaub die Twitter-Statistik durcheinanderbringe. Manchmal programmiert er mit Tweetdeck vor. Aber einmal gänzlich auslassen? Nein.

Harbich ist einer, der sich festgebissen hat. Auch wenn er sich schon manchmal beim Aufstehen fragt, warum er an seinem abendlichen Twitter-Ritual festhält. "In manchen Phasen flutscht’s, in anderen wird’s zur Belastung." Nach mehr als fünf Jahren noch Neues zu liefern wird mehr und mehr zur Herausforderung.

Aber das helfe ja alles nichts, grinst er. Wecker, Zähneputzen, der dritte Blick gelte am Morgen noch immer der Twitter-App. Seine derzeit 5138 Follower werden mit unnützem Wissen belohnt, das in keinem Wikipedia-Eintrag zu finden ist: Etwa dass im vergangenen Jahr in der Hauptstadt auf 141 Hektar Gurken angebaut wurden oder der Bezirk Hernals die höchste Kleingartenparzellendichte aufweist.

Mehr als 280 Zeichen

"Ein Tweet, das mögen nur 280 Zeichen und ein Foto sein, da steckt aber viel mehr dahinter." Harbich kann das guten Gewissens behaupten, er gibt sich nämlich nicht mit Fakten aus zweiter Hand zufrieden. Der Student, Lehramt Geschichte und Geologie, hat einen ganz eigenen Ehrgeiz entwickelt. Er liefert akribisch recherchierte, penibel zusammengetragene Informationen, ist mit öffentlichen Stellen in Kontakt, wertet Datensätze aus, am liebsten sitzt er in der Wienbibliothek des Rathauses, ein "herrlicher Ort", sagt er.

Was für andere die abendliche Freeletics-Trainingseinheit, ist für den 32-Jährigen sein Twitter-Account. Rund zweieinhalb Stunden wendet er täglich für die Recherche auf, in der Regel geht’s nach dem Job an der Uni Wien in der Studienzulassung los. Sein Grundsatz: "Immer einen Schritt voraus sein." Für seine Tätigkeit auf Twitter bedeutet das: vorbereitet zu sein, wenn nachgehakt wird. Nach dem Posten nimmt er sich für die nächste halbe Stunde nichts vor, denn "dann kommen meist noch Nachfragen". Harbich muss lachen, während er seinen Tagesablauf wiedergibt. Das klinge für Außenstehende schon alles ganz schön verrückt, oder?

Die Neugier sei sein Antriebsmotor für die Twitterei: "Ich gehe Dingen gerne auf den Grund." Nicht heiße Aufdeckergeschichten interessieren den Wiener, sondern das scheinbar Nebensächliche, das Alltägliche. Durchhäuser zum Beispiel oder alte Straßenschilder, die beim Gang durch die Stadt übersehen werden, weil alle Welt mit dem Smartphone beschäftigt ist. "Ich übrigens auch", gibt Harbich, der zu Recherchezwecken auch schon Wiens Öffi-Netz abgegangen ist, zu.

Schreibtischarbeit

Viele Beiträge aber sind trockene Schreibtischarbeit. Am längsten beschäftigt habe ihn die Frage, wie viele Tage im Jahr der Rathausplatz 2015 unbespielt war, erklärt der Wiener. "War gar nicht so leicht, die richtige Person zu finden, die den Kalender hat, in dem steht, wann auf- und abgebaut wird, der Platz also auch nur beschränkt leer ist." Harbich ließ nicht locker, fand es letzten Endes dann heraus: "An 24 Tagen", zwitscherte er des Rätsels Lösung.

Nüchtern und bedacht kommen seine 280 Zeichen immer daher, es geht schließlich um Fakten, nicht um Befindlichkeiten. Das ist auf Twitter eher ungewöhnlich: Die Social-Media-Plattform lebt gemeinhin von aus der Hüfte geschossenen Meinungsbeiträgen und hitzigen Wortgefechten.

Vielleicht hat deshalb auch noch keiner von Harbichs Informationshäppchen einen Shitstorm ausgelöst. Nur einmal, ganz am Anfang, da sei er vielleicht ein wenig danebengelegen. Der einzige Tweet, den der Wiener gelöscht hat, war die Suizidstatistik der Stadt Wien. "Es kam die Bitte, die Statistik rauszunehmen." Machte Harbich dann auch. Er will mit seinen Tweets niemanden verletzen oder verärgern, keine Werbung machen, unabhängig agieren, sich vor keinen Karren spannen lassen. Manchmal aber müsse er sich in Diskussionen einmischen, "um den Überdruck rausholen": "Wenn sich jemand über etwas aufregt, und ich merke, dass das ein Stuss ist, dann liefere ich Fakten aus einer nicht gefärbten, unabhängigen Quelle."

Auf Twitter zu Hause

Wenn Harbich erklärt, dass ihn auf Twitter weniger Ruhm und Likes als der Austausch mit anderen motivierten, nimmt man ihm das ohne weiteres ab. Der 32-Jährige redet lieber darüber, wie viele Leute er in der digitalen Sphäre kennengelernt hat, immer wieder trudelten Fragen für ihn herein, großartig sei das!

Mittlerweile sind wir auf unserer Innenstadtrunde in der Postgasse angekommen. Hier weist der City-Twitterer auf die "Pferdepflasterung" auf dem Boden hin. Warum bei steilen Straßen die geritzten Pflastersteine quer zur Fahrtrichtung verlegt wurden? Damit die Pferdehufe einen besseren Halt hatten! Es sind Details wie dieses, die Harbich so sehr liebt. Vielleicht will er später einmal Stadtführungen anbieten, dazu müsste er nur noch eine Ausbildung zum Fremdenführer machen. Mal sehen, wann er dafür Zeit finde, schiebt der Student hinterher. Es klingt nicht so, als habe er es damit allzu eilig.

Eine bisschen hat er das mit den Stadtführungen sowieso schon geübt. Auf dem lokalen Sender W24 hatte der Student eine Zeitlang eine eigene Sendung. Auch sonst blieb der hartnäckige Faktensammler nicht unbemerkt. Es sind in den vergangenen Jahren einige Artikel über Thomas Harbichs #WienFakt erschienen, selbst das daueraufgeregte Vice-Magazin war begeistert von seinen Recherchen zu "Gurkenernten, Sex in Fiakern und skurrilen U-Bahn-Namen". Kein Wunder, das Zusammentragen "unnützen Wissens" wurde längst zur Kunstform erhoben – skurrile Fakten taugen perfekt als Grundlage für Smalltalk.

Auch Harbich hat mittlerweile ein Gefühl dafür, was den Fans auf Twitter gefällt. Seine Top drei der erfolgreichsten, also meistgelikten Tweets kann er auf Anhieb nennen. Beliebtester #WienFakt: Das Schottentor ist die einzige Station in Wien, an der vier Primzahl-Straßenbahnlinien aufeinandertreffen.

Auf Platz zwei: Rund 498 Milliarden Mannerschnitten wären nötig, um die Fläche des Wiener Stadtgebiets zu bedecken. Und Nummer drei: So heißen die Straßen im Planetenviertel in Penzing. Angehängt hat Harbich wie immer Beweisbilder. Sie zeigen den Jupiter-, Venus- oder den Neptunweg.

Drei Jahre ist dieser Tweet alt. Lust, sich ins Planetenviertel aufzumachen, macht er noch immer. (Anne Feldkamp, 7.7.2020)