Nachdem ein Tschetschene, Kritiker des Staatschefs Kadyrow, in Gerasdorf umgebracht wurde, fordert die tschetschenische Community volle Aufklärung.

Foto: Robert Newald

Mehr als die bis zu 50 angekündigten Teilnehmer waren es dann doch, vielleicht doppelt so viele. Drei Tage nach dem Mord an Mamichan U. alias Martin B. in Gerasdorf reagiert die tschetschenische Community mit einer Kundgebung nahe der russischen Botschaft in Wien-Landstraße.

"Russische Mörder raus aus Europa", steht da auf den Schildern, "Demokratie statt Putin" und "Tschetschenen sind keine Tauschware". Manche, die sie halten, sind keine zehn Jahre alt, auch viele Frauen sind da. Sie tragen lange schwarze Röcke, die Männer Sonnenbrille. Einzelne verstecken sich zusätzlich hinter Kappen und Kapuzen.

Viele aus der tschetschenischen Community hätten zu viel Angst, um herzukommen, vermutete schon im Vorfeld der Organisator Khuseyn Iskhanov, tschetschenischer Exilpolitiker und Vorsitzender des Kulturvereins Ichkeria. "Sie fürchten, dass ihr Foto in Tschetschenien auftaucht und dann ihre Familie dort bedroht wird", sagte er gegenüber dem STANDARD.

Sorge um den Ruf der Tschetschenen

Er kritisiert außerdem, dass Tschetschenen in Wien nun wegen des Mordes und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit in ein schlechtes Licht gerückt werden. Medien erinnern etwa wieder an jene Tschetschenen, die im Vorjahr ein Bombenattentat auf den Stephansplatz geplant hatten. Aber von den etwa 35.000 Tschetschenen in Österreich, sagt Iskhanov, seien viele um Integration bemüht. "80 Prozent unserer Kinder waren nie in der Heimat", sagt er, "ihre Muttersprache ist Deutsch."

Laut Informationen der APA leben etwa drei Prozent der tschetschenischen Bevölkerung in Österreich. Das gesamte Spektrum des tschetschenischen Widerstands gegen Russland sei hier vertreten: Neben Befürwortern eines unabhängigen säkularen Staates Itschkerien, zu denen Iskhanov zählt, gebe es auch jüngere, eher verdeckt agierende radikale Islamisten im Land.

Kadyrow als Handlanger Putins

Die Redner und Rednerinnen, unter ihnen junge Vereinsmitglieder, wiederholen bei der Kundgebung allesamt: Der Mord sei politisch motiviert gewesen. "Aber wir haben keine Angst, dass uns das passiert", sagt eine junge Frau, "keine Angst, unsere Meinung zu äußern."

"Russische Mörder raus aus Europa", "Putin, lass uns in Ruhe" und "Tschetschenen sind keine Tauschware", stand auf den Schildern.
Foto: Robert Newald

Der getötete B. war ein bekannter Kritiker des brutalen tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow. Er war außerdem mehrfach vorbestraft und hatte angegeben, Informant mehrerer Staatsdienste, darunter des österreichischen, zu sein. Martin B.s Bruder soll laut Iskhanov von Kadyrov getötet worden sein, seine Mutter habe man gezwungen, den Leichnam in einem Berg Toter zu identifizieren.

Wer der wahre Täter im Fall B. ist, ist für die Anwesenden bei der Kundgebung klar: der russische Präsident Wladimir Putin – Kadyrow sei nur sein Handlanger. Seit den Neunzigern, sagt Iskhanov, seien in Europa 19 Tschetschenen ermordet worden, nun bereits zwei von ihnen in Österreich. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ließ am Dienstag per Aussendung wissen, dass er Hintermänner in der Sache vermutet – die Ermittlungen, insbesondere hinsichtlich des Motivs, würden laufen.

Resolution verlesen

In einer Resolution, die die Redner verlesen, fordern sie die Aufklärung der Tat, einen Abschiebestopp für geflüchtete Tschetschenen und Ermittlungen dazu, inwiefern die russische Botschaft in den Fall verwickelt gewesen sei. "Nieder mit dem Mörder Putin", schreit ein Redner so laut, dass es selbst der Botschafter wenige Häuser weiter hören dürfte.

Redner Michael Pröbsting engagiert sich für die tschetschenische Community.
Foto: Robert Newald

Dort wartet man aktuell auf eine Bestätigung, ob es sich bei den gefassten Tatverdächtigen um russische Staatsbürger handelt. Sollten die beiden Flüchtlinge sein, unterlägen sie der Zuständigkeit Österreichs und nicht Russlands.

Internationale Aufmerksamkeit

Der Mord am 43-jährigen Martin B. trifft aber nicht nur vor der russischen Botschaft, sondern auch international auf breite Aufmerksamkeit. Erst am Dienstag forderte Schwedens Ex-Regierungschef Carl Bildt eine "europäische Antwort" auf "eine Serie von Mordanschlägen an Exil-Tschetschenen quer durch Europa, durchgeführt von russischen Agenten".

Die beiden Beschuldigten in dem jüngsten Mordfall – sie stammen ebenfalls aus Tschetschenien und wurden im Rahmen einer Großfahndung verhaftet –schweigen indes weiter. Auch das Obduktionsergebnis stehe noch aus, sagte Friedrich Köhl, der Sprecher der Staatsanwaltschaft Korneuburg, der APA. Resultate des in Auftrag gegebenen Schießgutachtens seien erst in mehreren Wochen zu erwarten, sagte Köhl. Eine solche Expertise sei "sehr aufwendig".

Auf Martin B. soll ein Kopfgeld ausgesetzt gewesen sein. Das behaupten Gesprächspartner der tschetschenischen Community gegenüber der APA. Grund soll der Videoblog von Martin B. gewesen sein: In insgesamt 29 Videos kritisierte der 43-Jährige die politische Führung der russischen Teilrepublik. Der Ex-Polizist aus Tschetschenien hatte in Österreich den Status eines Konventionsflüchtlings. (elas, red, 7.7.2020)