Natascha Gangl bezieht sich in ihren Buch "Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn" auf nämliche Surrealistin.

Foto: Daniel Sostaric

Eine Dachrinne ist kein Sprachrohr. Aber unmöglich scheint der Gedanke nicht. Für Unica Zürn vielleicht sogar plausibel. Hauptanliegen der Berliner Schriftstellerin mit Wohnort Paris war es, in Texten neue Sinnzusammenhänge zu stiften, Bedeutungen neu zu arrangieren. Das tat die heuer vor fünfzig Jahren gestorbene Surrealistin vornehmlich in ihren Anagrammen, für die sie ebenso bekannt wurde wie für ihre filigranen, in ihrer Ambiguität verstörenden Zeichnungen.

Paranoide Schizophrenie

Auch die Prosa von Unica Zürn zeichnet entgrenzende Wahrnehmungen nach. Die Autorin hat diese durch eine Anfang der 1960er-Jahre ausgebrochene paranoide Schizophrenie als halluzinatorisches Glück wie Terror gleichermaßen erfahren. Eine der halsbrecherischsten Fantasien ist die, in der eine Frau am Himmel von einem Flugzeug ins andere in ein neues Leben umsteigt (Der Mann im Jasmin).

Der Dachrinnengeistesblitz aber stammt nicht von Zürn, sondern von Natascha Gangl. Die österreichische Schriftstellerin setzt sich in ihrem Buch mit dem Werk der bis heute meist übersehenen Dichterin auseinander. Es ist eine Hommage der nicht herkömmlichen Art. Denn Gangl, 1986 in Bad Radkersburg geboren, hat nicht einfach ein Buch geschrieben, sondern mit dem Schreibprozess ein Spiel eröffnet, in dem sie die Verfahren Zürns für ihre eigene Gedanken- und Spurensuche aktiviert.

Performativer Aspekt

Gangl ist den wichtigen Schauplätzen und Schreiborten im Leben der Autorin chronologisch nachgereist, um dann anhand des sich jeweils vor Ort abspielenden Lebens oder auch der sich eröffnenden Architektur und sich abzeichnender Stadtbilder den Eindrücken von einst hinterherzuspüren. Dieser Prozess beinhaltet auch einen performativen Aspekt, insofern könnte man sagen: Gangl reenacted Zürn’sche Literatur.

Originalzitate aus Zürns Werk treten im Band Das Spiel von der Einverleibung auf eine Pingpong-Weise in einen Dialog mit Gangls sprachlicher Suchbewegung, die sich nach dem Motto "Alles ist eine Botschaft" (Alexander Kluge) maximal aufgeschlossen und an jedem noch so kleinen Zeichen interessiert zeigt. Und das oft in der auch für Zürn typischen, das Ich verweigernden Rede in der zweiten oder dritten Person. Sogar die Musik aus einem vorbeifahrenden Auto kann kein Zufall sein!

Es gibt für die Gedankengewitter verschiedene Ausgangspunkte, nicht zuletzt biografische. "Sie nimmt deine Augen an die Leine und du folgst ihren Handlungen", schreibt Gangl über diesen Vorgang. Der Weg verläuft vom Kindheitshaus in Grunewald hinein in die Straßen von Berlin, weiter nach Frankreich, nach Paris und zu den wohlklingenden Namen der psychiatrischen Kliniken, wo Zürn einige Jahre ihres Lebens verbracht hat. Manchmal nehmen die Spuren fantastische Züge an, besonders in Frankreich, wo Zürn mit ihrem zweiten Ehemann (dem Künstler Hans Bellmer) ihr schriftstellerisches Leben verbracht hat.

So lassen sich beispielsweise Einschusslöcher, die Zürn Ende der 50er-Jahre in einem Brief erwähnt, mit einigem guten Willen noch heute in der Rue Mouffetard finden.

Aggressive Schaulust

Natascha Gangl lässt in Das Spiel von der Einverleibung nicht nur das schriftstellerische Werk Zürns, sondern auch ihre Zeichnungen und Gouachen widerhallen. Und zwar in den Arbeiten des in Mexiko lebenden Zeichners Toño Camuñas. Seine Bilder sind jenen Zürns wesensverwandt.

In farbenprächtigen Skizzen kollidieren hier Angstträume, großäugige Fantasiegestalten treffen auf Wesen der Populärkultur, auf Tiere oder Figuren des mexikanischen Totenkults. Die Bilder sind jeweils auf einer Doppelseite ins Buch eingebaut. Zentral sind in ihnen, wie auch bei Unica Zürn, immer die Augen und ihre mehr oder weniger aggressive Schaulust. Man kann sich in diesen intensiven Wimmelbildern genauso vertiefen wie in der heraufbeschworenen Literatur von Zürn/Gangl.

Das Spiel von der Einverleibung ist bei Starfruit Productions erschienen, einem Verlag, der sich um das Ineinandergreifen der Künste verdient macht. Genau für dieses Ineinandergreifen steht Unica Zürn mit ihren Anagrammzeichnungen und ebenso sehr Natascha Gangl, die mit diesem Entdeckerinnenrätselspiel abenteuerliche literarische Räume erobert. Sprache erreicht – je nach Aggregatszustand: geschrieben, gezeichnet, gesprochen, performt – unterschiedliche Wirk- und Erkenntnismöglichkeiten.

Dramatisches Anagramm

Diese lotet Gangl, selbst auch Performerin, in ihren Schnittstellenwerken aus. Für das Kabinetttheater in Wien entwickelte sie bereits 2017 ein dramatisches Anagramm frei nach Unica Zürn. Und auch Das Spiel von der Einverleibung setzt sich auf einer weiteren Ebene fort: als Klangcomic Die Revanche der Schlangenfrau (ab 5. 7.) sowie ab 25. Oktober auch als Ausstellung in Nürnberg. (Margarete Affenzeller, 7.7.2020)