Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister schreibt über die Wirtschaftspolitik in Zeiten von Corona – und die bestehende Krise.

Die gegenwärtige Krise wird weltweit durch gigantische Hilfsgelder bekämpft. Sie mögen beruhigen, für einen Aufschwung reichen sie nicht: Gut bis Besserverdienende warten mit größeren Anschaffungen zu, Geringverdiener, Arbeitslose und Arme bekommen fast nichts. Und warum sollen Unternehmen ihre Investitionen jetzt ausweiten? Sie sind froh, wenn sie ihre Umsatzeinbußen verkraften können.

Die "Geldspritzenpolitik" spiegelt den (neoliberalen) Glauben wider: "Schocks" könnten eine Marktwirtschaft zwar in Turbulenzen bringen, nach einem Impuls der Politik würde sie sich aber wieder stabilisieren.

Tatsächlich hat Covid-19 eine Systemkrise offengelegt, deren Komponenten seit fast 50 Jahren herangewachsen sind: exzessive Finanzspekulation, Verlagerung des Profitstrebens von der Real- zur Finanzwirtschaft, Zunahme von Arbeitslosigkeit, atypischer Beschäftigung und prekärem Kleinunternehmertum, Schwächung des Sozialstaats, Verschlechterung der Entfaltungschancen der Jungen bei Wohnen und Arbeit, steigende Ungleichheit, Verbitterung und Zukunftsangst der Vereinzelten – all dies begleitet von der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch die Klimakrise.

Kampf gegen die Klimakrise: Ein Vorschlag wäre die energetische Erneuerung des gesamten Gebäudebestands in Österreich.
Foto: Imago images/shotshop

Die gemeinsame Ursache des "Multiorganversagens" besteht in der Dominanz neoliberaler Theorien, sie haben diese Einzelentwicklungen legitimiert – von der Entfesselung der Finanzmärkte, der Nichtbekämpfung der Erderwärmung bis zum Glauben, "die Märkte" würden den Weg aus der Krise schon finden.

"Geldspritzenpolitik"

Depressionen sind Phasen, in denen das Alte nicht mehr funktioniert und das Neue noch nicht gefunden ist. Ihre Überwindung verlangt einen umfassenden Kurswechsel durch eine Politik, welche die bedrückendsten Probleme durch große Projekte anpackt, die Menschen dafür mobilisiert und ihnen so Hoffnung gibt auf ein besseres Leben (wie in der Weltwirtschaftskrise der New Deal von Roosevelt oder die Schaffung des Wohlfahrtsstaats in Schweden). Der "Geldspritzenpolitik" fehlen hingegen Visionen für die Bewältigung der gegenwärtigen Hauptprobleme.

Wie könnte eine "krisengerechte" Politik konkret aussehen? Das möchte ich am Beispiel eines Megaklimaprojekts skizzieren: die energetische Erneuerung des gesamten Gebäudebestands in Österreich durch den integrierten Einsatz von Wärmedämmung, Photovoltaik, Stromspeichern, Wärmepumpen und den Ausbau lokaler Stromnetze. Dadurch lässt sich der Energieverbrauch für Heizen und Kühlen radikal absenken und zusätzlich Strom erzeugen. Die Umsetzung sollte zunächst Ein- beziehungsweise Zweifamilienhäuser in kleine "Ökokraftwerke" verwandeln.

"Anschubpotenzial"

Wie hoch wäre das "Anschubpotenzial", wenn drei Prozent der Häuser jährlich saniert würden? Bei Einzelprojektkosten von 150.000 Euro für Dämmung, Wärmepumpe, Photovoltaik und Speicher und 50.000 Sanierungen ergäben sich Gesamtinvestitionen von 7,5 Milliarden Euro und ein zusätzliches BIP von 11,2 Milliarden Euro oder 2,8 Prozent pro Jahr. Die Umsetzung erfordert ein politisches Projektmanagement, das Bund, Länder, Gemeinden, Banken, Unternehmen und Medien aktivierend vernetzt:

· Es werden einheitliche Förderungsinstrumente geschaffen, die Sanierungen "im Ganzen" fördern (derzeit werden die einzelnen Komponenten wie Wärmedämmung oder Photovoltaik getrennt unterstützt – überdies nach Bundesländern unterschiedlich).

· Die örtlichen Banken/Sparkassen erstellen nicht nur Finanzierungspläne, sondern helfen auch bei der Einholung von Kostenvoranschlägen oder behördlichen Genehmigungen.

· Es wird eine Kampagne mit "langem Atem" organisiert samt Logo, Slogan, Informationsmaterial, Best-Practice-Wettbewerben etc. Sie zeigt: Gut wohnen und Klima schonen ergänzen einander. Je mehr das zum Thema (bis zu den Stammtischen) wird, desto mehr Menschen werden für das Megaprojekt mobilisiert.

Die Kreditkonditionen werden auf Jahre hinaus extrem günstig sein, da der Euro-Leitzins bei null bleibt und die Banken durch Grundbuchsbesicherung kein Risiko haben. Um das Projekt auf Touren zu bringen, braucht es am Beginn eine massive Förderung samt der Ankündigung, dass diese langfristig zurückgefahren wird ("Early-Bird-Effekt").

Selbst wenn am Anfang 30 Prozent der Investitionssumme zugeschossen würden (2,5 Milliarden Euro), wäre es für den Staat ein Geschäft; denn vom zusätzlichen BIP von 11,2 Milliarden Euro nimmt er ein Jahr später wesentlich mehr an Mehrwert-, Lohn- und Einkommenssteuer ein.

Nachfrageimpulse

Einer der wichtigsten makroökonomischen Vorteile eines solchen Megaprojekts besteht darin, dass seine Nachfrageimpulse das ganze Land erfassen und arbeitsintensive Produktionen auslösen (im Gegensatz zu einzelnen Großprojekten).

Generell gilt: Die Bewältigung der Wirtschafts- und Klimakrise erfordert eine neue Art gestaltender und die Menschen aktivierender Politik, das Aufstellen von Unterstützungs- und Fördertöpfen wird nicht reichen. Dazu braucht es konkrete, breitdiskutierte Vorstellungen, wie Europa in zehn, 20 oder 30 Jahren aussehen soll. Ohne reale Utopien und die Selbstermächtigung, sie umzusetzen, bleibt "Krise als Chance" eine Phrase. (Stephan Schulmeister, 8.7.2020)