I’m bound for the promised land", singt die Sklavin MintyRoss, bevor sie noch in derselben Nacht von einer Plantage in Maryland in den Norden flieht. "I’m gonna leave you, I’m sorry I’m gonna leave you, farewell, oh farewell." Das Spiritual ist in Harriet Freiheitshymne, Abschiedslied und ein verschlüsselter Code. Im Gesang vom Aufbruch ins Gelobte Land auf der "anderen Seite des Jordan" kündigt sich aber auch auf geradezu prophetische Weise ihre Bestimmung an.

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Harriet (Cynthia Erivo) glich in den Augen vieler einer von Gott Berührten: Regisseurin Kasi Lemmons scheut auch vor keiner mythischen Überhöhung zurück und verleiht ihrer Figur Superheldinnenkraft.
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Minty (Cynthia Erivo), die sich nach ihrer erfolgreichen Flucht 1849 Harriet Tubman nennt, wird zur wichtigsten "Kondukteurin" des geheimen Fluchtnetzwerks Underground Railroad. Dreizehnmal kehrt sie bis zum Ende des Sezessionskriegs in den Süden zurück, um insgesamt 70 Sklaven, darunter auch ihre Familie, in die Nordstaaten oder nach Kanada zu bringen. Ihr biblischer Übername ist "Moses" – in Anspielung auf den Propheten, der die Israeliten aus der Sklaverei befreite. Die religiöse Analogie hat aber noch eine andere Bedeutung. Harriet Tubman ist "touched by god", wie es einmal heißt. Als sie gefragt wird, mit wem sie die 145 Kilometer zu Fuß in den Norden gegangen sei, erklärt sie mit Nachdruck: "Just me and the lord."

Momentaufnahmen der Sklaverei

Vier Jahre nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs wurden die Erlebnisse der bekanntesten afroamerikanischen Fluchthelferin auf Grundlage von Interviews in Form einer sogenannten "slave narrative" erstmals dokumentiert (Scenes in the Life of Harriet Tubman). In der nun ersten Verfilmung, die dem Hollywood-Historienbild eine wichtige schwarze Erzählung hinzufügt, rückt Regisseurin Kasi Lemmons – anders als etwa Steve McQueen in Twelve Years a Slave – den Fokus ganz auf die individuelle Figur, nicht aufs Systemische. Die Sklaverei wird auf Momentaufnahmen verknappt: an Bäume gepinnte "For sale"-Aushänge, mit Bluthunden hetzende Sklavenjäger, die Narben auf Harriets Rücken.

Als Biopic hält sich Harriet nicht lange mit der Ausgestaltung der Figuren auf, der handlungsorientierten Agenda folgend sucht der Film eher die Nähe zum Western- und Actionfilm. Die Dramaturgie folgt Tubmans Routen: ihre riskanten Fahrten mit falschen Papieren in den Süden, die nächtlichen Fluchten mit Gruppen entflohener Sklaven, schließlich, nach erfolgreicher Mission, die triumphale Ankunft im Büro der Anti-Slavery Society in Pennsylvania. Mit Inkrafttreten des Fugitive Slave Act, der die Exekutive der Nordstaaten zwang, bei der Festsetzung entflohener Sklaven behilflich zu sein, werden Tubmans Befreiungsaktionen noch riskanter. "Moses" wird im Süden zu einer berüchtigten Figur, man vermutet, ein weißer Abolitionist verberge sich hinter dem "slave stealer". Unter der Führung ihres ehemaligen Besitzers, den der Film eher unergiebig als ambivalent schillernden Gegenspieler inszeniert, setzt sich eine Jagd in Gang.

Jeanne d’Arc hoch zu Ross

Harriets mediumistische Fähigkeiten, die in etwas redundanten dramatischen Flashback-Montagen illustriert werden – Tubman soll als Folge einer durch Gewalt verursachten Kopfverletzung tatsächlich an Halluzinationen gelitten haben –, stilisieren sie zu einer schwarzen Jeanne d’Arc, erst recht, wenn sie im Bürgerkrieg als bewaffnete Angriffsführerin hoch zu Pferd sitzt.

Auch wenn die mythologische Überhöhung Tubmans Geschicklichkeit und ihre Ortskenntnisse ungünstig in den Hintergrund treten lässt, vermag Cynthia Erivo den Film doch über weite Strecken zu tragen. Ihr kraftvolles Spiel verleiht der Figur eine unerschütterliche, an Superpowers grenzende Stärke. In ihrer energischen Rolle als "Boss", die sich unter Männern zu behaupten weiß, kündigt sich auch ihre spätere Rolle in der Frauenrechtsbewegung an. Jetzt im Kino (Esther Buss, 9.7.2020)