Deutschland ist derzeit das Vorsitzland im Europäischen Rat, und Kanzlerin Angela Merkel ist die Frau, auf die sich alle Augen richten. Diese Pfarrerstochter aus der DDR nannte US-Präsident Barack Obama einst "the leader of the free world". Und eine Zeitung fragte dieser Tage: "Rettet sie Europa?" Die meisten Experten sind sich darüber einig: Angela Merkel, Physikerin, nüchtern, uneitel, Pathos und Großmachtallüren abhold, ist in dieser Krisenepoche die angesehenste politische Persönlichkeit zwischen Washington und Peking.

Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Einmal deshalb, weil Deutschland noch vor nicht allzu langer Zeit als der Hort alles Bösen galt. Nicht nur während der Nazizeit, auch davor misstraute ein großer Teil der Welt dem Deutschen Reich.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist die Frau, auf die sich alle Augen richten.
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In seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen", geschrieben zu Beginn des Ersten Weltkriegs, beschrieb Thomas Mann sein Heimatland – durchaus positiv gemeint – als die Antithese zur westlichen Zivilisation und zu deren Werten der Aufklärung, der Vernunft, der Demokratie, verkörpert durch Frankreich. Deutschland war in den Augen vieler Westeuropäer das Land der Barbaren.

Heute gilt Angela Merkels Deutschland, fast mehr noch als Frankreich, als der Hort der europäischen Werte. Dissidenten aus aller Welt, aus Russland, aus dem Iran, aus China, aus Israel ebenso wie aus Palästina, zieht es nach Berlin. Hier kann vieles erscheinen, das andernorts verboten ist. Wenn es um die Verteidigung der Menschenrechte geht, ist für zahlreiche Betroffene Deutschland die erste Adresse.

Radikaler Schwenk

Angela Merkel, die vor vielen Jahren, als "Kohls Mädchen" nicht ganz ernst genommen, ihre Karriere begann, hat in ihrer langen Kanzlerschaft dreimal einen radikalen Schwenk ihrer Politik verantwortet. Einmal beim Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft. Das zweite Mal während der Flüchtlingskrise, als sie, entgegen einem Großteil der öffentlichen Meinung, die Grenze öffnete. Und das dritte Mal in jüngster Zeit mit ihrer Entscheidung, hunderte Milliarden in den Wiederaufbau Europas nach der Corona-Krise zu investieren. Frankreich und Deutschland haben gemeinsam dieses Projekt initiiert, aber Deutschland wird den Löwenanteil der Last zu schultern haben.

Nicht nur die berühmten Sparsamen Vier – manche sagen "die geizigen Vier" – unter den Staaten der Union sind dagegen. Auch in Deutschland selbst gab und gibt es viel Widerstand gegen das Ansinnen, Steuergeld fleißiger deutscher Bürger den faulen Südländern in den Rachen zu werfen.

Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie achten sie nicht, heißt es. Und die Italiener achten die Deutschen, aber sie lieben sie nicht. Trotzdem gibt es im Deutschen Bundestag eine solide Mehrheit für Angela Merkels Erklärung, Europa könne die Probleme der Gegenwart nur gemeinsam lösen. Nationale Alleingänge wären nicht nur kontraproduktiv, sie könnten im Endeffekt das ganze europäische Gebäude zum Einsturz bringen.

Drei unpopuläre Entscheidungen. Drei Entscheidungen, die das Gegenteil von Populismus sind, allerdings trotzdem – oder vielleicht eben genau deshalb – ihre Initiatorin zur populärsten Politikerin Europas gemacht haben. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 8.7.2020)