Kontrollen wurden recht genau genommen.

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Die während der Corona-Hochblüte verordneten Ausgangsbeschränkungen sorgen rund drei Monate nach ihrem Auslaufen immer noch für reichlich juristischen Stoff. Tausende Strafen wurden verhängt und wurden bereits in mehreren Fällen erfolgreich bekämpft.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Diskrepanz zwischen Regierungsdiktion und Verordnungsinhalt: Während das Kabinett von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) abwärts gebetsmühlenartig wiederholte, dass es nur wenige Ausnahmen (beispielsweise berufliche Notwendigkeit, Einkaufen) vom Ausgangsverbot gebe, stand in der von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) erlassenen Verordnung ein weitergehender Punkt. Demnach durften öffentliche Orte generell allein oder mit Mitgliedern des gemeinsamen Haushalts betreten werden, wenn die Abstandsregeln gewahrt blieben.

Keine Generalamnestie

Juristen machten früh darauf aufmerksam, dass diese Generalausnahme im Widerspruch zu den Botschaften anderer Regierungsmitglieder stehe und deshalb die verhängten Strafen vielfach unangebracht sein dürften – was Kurz zu der Aussage verleitete, das seien juristische Spitzfindigkeiten. Die Auffassung mehrerer Fachleute wurde nun schon in mehreren gerichtlichen Entscheidungen bestätigt. Als Folge hat dann Niederösterreich beschlossen, Strafen zurückzuzahlen. Eine Generalamnestie lehnte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) allerdings bisher immer ab.

In der Zwischenzeit haben sich aber nicht nur die Entscheidungen gehäuft, mit denen Strafen kassiert wurden. Nun gibt es einen Antrag des Landesverwaltungsgerichts Wien, die Verordnung zu kippen. Die Bestimmungen seien gesetzeswidrig, heißt es in der Vorlage an den Verfassungsgerichtshof. Grund ist, dass die Bestimmungen durch das Covid-19-Maßnahmengesetz nicht gedeckt seien.

"Bestimmte Orte"

Dort wurde nämlich verankert, dass das Betreten "bestimmter Orte" verboten werden kann. In den Erläuterungen des Gesetzes finden sich dann Beispiele wie Spielplätze, Sportstätten oder Seeufer. In der Verordnung aber wurde die Begehung aller öffentlicher Orte untersagt und um Ausnahmen ergänzt. Das Verbot wurde somit zur Grundregel, wodurch das Regel-Ausnahme-Prinzip "in grundrechtsrelevanter Weise umgekehrt" worden sei, wie das Verwaltungsgericht in seiner Vorlage festhält.

Die Polizei hat ihre harte Linie bei Verstößen gegen Corona-Bestimmungen erst kundgetan, dann rigoros umgesetzt.
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Mit der weiten Auslegung des Betretungsverbots öffentlicher Orte ließen sich weder in lokaler noch in sachlicher Hinsicht jene "bestimmten Orte" ermitteln, für die der Gesetzgeber eine Sperre legitimiert. Somit sei keine gesetzeskonforme Abgrenzung erfolgt, heißt es in dem Antrag an den Verfassungsgerichtshof.

Nur enge Auslegung möglich

Das Verwaltungsgericht ist der Ansicht, dass gesetzliche Beschränkungen der Grundrechte "nicht extensiv ausgelegt werden dürfen". Es beruft sich dabei auf Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, wonach Eingriffe in grundrechtlich geschützte Lebensbereiche besonders exakt determiniert sein müssen. Bei den Ausgangsbeschränkungen gehe es immerhin um Eingriffe in das verfassungsmäßig geschützte Recht, sich frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen. Die Verordnung sei vom Covid-19-Maßnahmengesetz nicht gedeckt, hält das Gericht zusammenfassend fest.

Eine allfällige Aufhebung durch den VfGH hätte nicht nur politische Folgen, sondern würde möglicherweise auch anderen Beschwerdeführern aus der Patsche helfen. Zwar wurden einige Strafbescheide aufgehoben, etwa im Fall des Besuchs von Freunden, der unter Einhaltung der Abstandsregeln auf dem Weg dorthin nicht strafbar war. Allerdings gibt es auch Fälle, bei denen andere Verstöße mit Geldbußen von bis zu 3.600 Euro von den Landesverwaltungsgerichten bestätigt wurden. So geht es auch im gegenständlichen Wiener Anlassfall um nicht eingehaltenen Abstand.

Ergreiferprämie

Allerdings steht es dem Verfassungsgerichtshof frei, ob eine allfällige Aufhebung der Verordnung nur für die anhängige Beschwerde gilt, was Kenner auch als "Ergreiferprämie" bezeichnen. Das Wiener Verwaltungsgericht hat jedenfalls angeregt, dass ein Kippen der Verordnung für alle beim Verwaltungsgericht liegenden Fälle Bedeutung haben sollte.

Die Vorlage an den VfGH ist auch deshalb von Bedeutung, weil das Höchstgericht Individualanträge, mit denen man unter Umständen ohne Bescheid eine Verfassungswidrigkeit beanstanden kann, im Zusammenhang mit Corona abgeschmettert hat. Die Begründung: Es sei den Klägern zumutbar, durch die Instanzen zu gehen.

Und was sagt das Gesundheitsministerium zu diesen Entwicklungen? Landesverwaltungsgerichten stehe es generell offen, die Rechtskonformität von Verordnungen vom Verfassungsgerichtshof überprüfen zu lassen, wenn es sich um eine Fragestellung handelt, die ihren Verfahren zugrunde liegt. Das weitere Vorgehen will das Ressort erst nach einer Entscheidung des Höchstgerichts beraten. (Andreas Schnauder, 9.7.2020)