Die Arbeit mit den Symphonikern sieht Andrés Orozco-Estrada, der Dirigent aus Kolumbien als sein Lebenswerk.

Foto: Martin Sigmund

Im Februar war alles noch normal. Also was man im Leben eines international tätigen Dirigenten halt so unter Normalität versteht: erst vier Konzerte im texanischen Houston mit dem dortigen Symphonieorchester und Werken von Schumann. Dann ab in den Flieger nach Wien, drei Konzerte mit den ortsansässigen Symphonikern: Beethoven-Violinkonzert mit Leonidas Kavakos und Dvoøáks Neunte. Von Wien nach Leipzig, ebenfalls drei Konzerte, jetzt mit dem Gewandhausorchester, Beethoven und Mendelssohn. Anfang März ging sich noch ein Debüt beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aus: Beethovens Vierte und sein Tripelkonzert mit Anne-Sophie Mutter, Maximilian Hornung und Yefim Bronfman als hochkarätiger Solistenschar.

Aber dann war Schluss für Andrés Orozco-Estrada. Zum ersten Mal seit dem frühen Beginn seiner künstlerischen Karriere Mitte der Nullerjahre in Wien, als Einspringer beim Tonkünstlerorchester Niederösterreich, stand sein berufliches Leben ungewollt still. Keine Europa-Tournee mehr mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, keine Konzerte mit dem New York Philharmonic im Big Apple, keine Carmen-Neuproduktion an der Oper von Amsterdam. Stattdessen: Generalpause, mit einer fetten Fermate darüber, sozusagen.

Von 100 auf Null – und wieder auf 100

Wie war das für ihn? Wie ist der quirlige Kolumbianer damit klargekommen? Einerseits wäre er "froh und dankbar" gewesen, gesteht Orozco-Estrada – mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Endlich Zeit für die Familie in Wien, für die Frau und die Tochter. Zeit auch, dem Körper etwas Erholung zu gönnen. Andererseits sei diese Vollbremsung "von 100 auf null innerlich nicht so einfach" gewesen, meint der Vielarbeiter. Im Lauf der Shutdown-Wochen fand der 42-Jährige aber langsam zu einer Balance zwischen Erholung, Partiturenstudium (Neunte Mahler, Vierte Schostakowitsch, Das Buch mit sieben Siegeln,Rheingold), Telefonaten mit diversen Orchestern und Home-Schooling (der Tochter).

Nach einzelnen Konzerten in Deutschland geht’s für Orozco-Estrada in einer Stadt wieder so richtig los, die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat: in Graz. Hier war er – schon mit Ende 20! – Chefdirigent von recreation – Großes Orchester Graz, hier füllte er bei der Styriarte 2016 die gewaltige Lücke, die der Tod Nikolaus Harnoncourts hinterließ. Bei der Styriarte leitet Orozco-Estrada nun zwei verschiedene Projekte und kommt so dank des neuen Corona-Konzertschemas an zwei Wochenenden auf zwölf (einstündige) Konzerte.

Interaktion mit dem Publikum

Im allseits beliebten, bewährten "Soap"-Format wird mit dem Festspiel-Orchester Beethovens Pastorale vorgespielt und -gestellt. Wovon erzählt Beethoven in dieser Symphonie? Wie probt man das Werk, wie findet man die passenden Tempi? Orozco-Estrada will Interessantes für Kenner wie auch für Klassik-Novizen vermitteln und mit dem Publikum interagieren. Wobei er bedauert, dass ihm dafür leider nur wenig Zeit zur Verfügung steht, dauert Beethovens sechste Symphonie doch an sich schon einmal eine Dreiviertelstunde. Und bei Don Giovanni in Nöten, seinem zweiten Projekt bei den steirischen Festspielen, ist sowieso alles anders.

Da hat Styriarte-Dramaturg Karl Böhmer für ein Konzentrat der Mozart-Oper eine Drumherumgeschichte ersonnen, die auf die Corona-Krisensituation Bezug nimmt: Ein Impresario à la Schikaneder und ein mutiger Maestro versuchen zusammen trotz widriger Umstände "irgendwas auf die Bühne zu bringen. Es sind nur drei Sänger da? Wurscht." In ihrer Version des "dramma giocoso" läge, im Gegensatz zu Da Ponte, der Schwerpunkt auf dem giocoso, weiß der menschenfreundliche Maestro und freut sich schon hörbar auf die Heiterkeiten.

Der Himmel voller Geigen

Noch ein bisschen mehr freut sich Andrés Orozco-Estrada aber auf die bald anbrechende Zeit als Chefdirigent der Wiener Symphoniker. Wahlwiener ist der Mann aus Medellín ja schon seit seinen Studentenzeiten Ende der 1990er-Jahre. Ab September wird er für fünf Jahre die Position des Chefdirigenten der Wiener Symphoniker einnehmen; die Leitungsfunktionen, die er beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt und beim Houston Symphony Orchestra innehat, laufen in den nächsten ein bis zwei Jahren aus. Seinen Fokus möchte er komplett auf die Wiener Symphoniker legen, soll doch seine Arbeit beim traditionsreichen, von der Stadt Wien getragenen Klangkörper nach seinem Willen doch sein zentrales "Lebenswerk" werden.

Zwischen den frisch Gebundenen hängt der Himmel voller Geigen. Noch? "Es ist wie in einer Beziehung", erklärt Orozco-Estrada: "Am Anfang ist immer alles schön." In einer Beziehung ist es aber auch wichtig, den Partner nicht mit Forderungen zu strangulieren. Und so möchte Orozco-Estrada den Musikern mehr Freiheit im Spiel zugestehen – basierend auf einer vorher geleisteten Detailarbeit, versteht sich. Auch er selbst nähme sich im Konzert manchmal das Recht auf Spontaneitäten heraus – es müsse nur die Balance zwischen Kontrolle und Freiheit gewahrt bleiben.

Erste Saison in kontrollierter Freiheit

Und so widmet man sich in der ersten Saison in kontrollierter Freiheit gemeinsam den Schwerpunktkomponisten Joseph Haydn und Richard Strauss – und macht einen Bogen um das Beethoven/Schubert-Repertoire, das von Vorgänger Philippe Jordan mit aller Hingabe und Leidenschaft gepflegt wurde. Beim Wiener Klassiker wird akribisch an der musikalischen Artikulation gearbeitet, bei Strauss am großen romantischen Klang modelliert. Oper im Theater an der Wien wird Orozco-Estrada erstmals in der Saison 2021/2022 dirigieren.

Tourneen nach Deutschland und Asien sind genauso geplant wie das neue Format der Hauskonzerte, bei dem der Dirigent auch sein kommunikatives Talent einbringt. "So wie die Musik ist die Sprache ein Geschenk", sagt Orozco-Estrada. "Sie ist dazu da, die Menschen einander näherzubringen." Für den großen Zusammenführer Andrés Orozco-Estrada gibt es in Zeiten wie diesen also auf vielen Ebenen reichlich zu tun. (Stefan Ender, 10.7.2020)