Wenn Emir Suljagić aus seinem Bürofenster schaut, blickt er auf ein weißes Gebäude mit Balkon. Dann tauchen wieder die Bilder aus dem Juli 1995 auf, als dort auf der Terrasse Männer zusammengepfercht standen, die soeben von ihren Frauen, Kindern und Eltern getrennt worden waren, um kurze Zeit später in Massenexekutionen ermordet zu werden. Suljagić hat die Massengewalt in Ostbosnien überlebt.

Heute ist er Direktor der Gedenkstätte in Potočari, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Dieses Jahr werden die Überreste von acht Ermordeten bestattet. Denn 25 Jahre nach dem Massenverbrechen werden oft nur mehr ein paar Knochen von Opfern mittels DNA-Analyse identifiziert.

Über 8000 Bosnier mit muslimischen Namen wurden vor 25 Jahren rund um die ostbosnische Stadt Srebrenica ermordet. Trotz der Gedenkstätte wird das Massenverbrechen in der Region oft geleugnet.
Foto: AFP / Elvis Barukcic

Viele Angehörige würden aber hoffen, dass man doch noch andere Skelettteile ausgräbt, und warten noch auf ein Begräbnis, erzählt Suljagić. Immerhin können Angehörige heuer wegen der Corona-Krise in "angemessener Intimität" von ihren Lieben Abschied nehmen. Einige Familien sind bereits betend zwischen den weißen Grabsteinen zu sehen.

3.000 Videobotschaften

Jedes Jahr am 11. Juli gedenken hier sonst Tausende der Verbrechensopfer. Heuer sind nur 150 Personen geladen – darunter der Großmufti, der höchste Vertreter der jüdischen Gemeinde und der katholische Kardinal. Von orthodoxer Seite wird niemand kommen. Der Großteil der Veranstaltung wird virtuell stattfinden; 3.000 Vertreter von Staaten, Regierungen und internationalen Organisationen schicken eine Videobotschaft. Die Anteilnahme der Weltgemeinschaft steht in scharfem Widerspruch zu der Verweigerung jeglicher Empathie auf lokaler Ebene.

Srebrenica liegt in der Republika Srpska (RS), jenem Landesteil von Bosnien-Herzegowina, der von extrem rechten Politikern regiert wird, die die Fakten leugnen – etwa dass hier vor 25 Jahren über 8.000 Menschen systematisch ermordet wurden, nur weil sie muslimische Namen hatten. Der Genozid in Srebrenica stand am Ende eines dreieinhalbjährigen Versuchs seitens rechtsradikaler Politiker, Menschen mit nichtserbischen Namen zu vertreiben und zu ermorden, um den "ethnisch gesäuberten" Teil von Bosnien abzuspalten und an ein Großserbien anzuschließen. 81 Prozent der zivilen Opfer hatten muslimische Namen.

Der starke Mann in der RS, Milorad Dodik, spricht von Srebrenica als einem "fabrizierten Mythos" und der "größten Täuschung des 20. Jahrhunderts". Der Bürgermeister von Srebrenica, Mladen Grujičić, leugnet ebenfalls den Völkermord und behauptet, viele der Opfer, die in Potočari begraben seien, würden noch leben.

Die serbisch-orthodoxe Kirche unterstützt weiterhin die Schaffung eines großserbischen Staates. Patriarch Irenej sagt etwa: "Serbien ist überall, wo Serben leben." Sicher ist, dass die "Mauern des Schweigens" heute stärker sind als zuvor. Die Überreste von 1.700 Menschen bleiben unentdeckt, irgendwo verscharrt zwischen den tiefgrünen Hügeln.

Parallelrealität

"Die lokale Bevölkerung hier lebt in einer Parallelrealität. Sie fahren jeden Tag an tausenden Grabsteinen vorbei, die von dem Genozid zeugen, und trotzdem verleugnen sie ihn", sagt Suljagić. "Ich weiß nicht, ob Dodik versteht, dass man den Weg für den nächsten Genozid bereitet, wenn man einen bereits begangenen leugnet", gibt er zu bedenken.

In der RS wurde vor zwei Jahren sogar eine "Kommission" zu Srebrenica gegründet, die offenbar alternative Fakten fabrizieren soll. Vor 15 Jahren hatte man die Tatsachen noch anerkannt. "Dodik hat realisiert, dass er dafür Stimmen bekommt, wenn er die Verbrechen leugnet", so Suljagić. Auf Plakaten in Srebrenica wird zurzeit auf Gedenkveranstaltungen für serbische Kriegsopfer hingewiesen. Von der orthodoxen Kirche weht eine Fahne in den serbischen Farben.

Ein Gesetz gegen die Leugnung der Kriegsverbrechen hat im bosnischen Parlament wegen des Widerstands der Nationalisten keine Chance. Unterstützung von außen fehlt. Nicht einmal anlässlich des 25. Jahrestags unterstützt die EU ein solches Gesetz, das mithilfe der internationalen Gemeinschaft eingeführt werden könnte.

Mut zur Wahrheit finden

"Für diejenigen, die bisher geschwiegen haben, hoffen wir, dass sie den Mut finden, sich dem Kampf für Wahrheit und dauerhaften Frieden in Bosnien-Herzegowina anzuschließen", verlautbart die Gedenkstätte.

Am 11. Juli 1995 sagte General Ratko Mladić nach dem Sturm von Srebrenica: "Wir übergeben diese Stadt nun der serbischen Nation. Die Zeit ist gekommen, um Rache an den Türken in der Region zu üben." In den folgenden Tagen mussten sich Tausende in Reihen aufstellen und wurden erschossen. Wegen der Corona-Krise können heuer nur wenige in Srebrenica des Völkermords gedenken, der vor 25 Jahren in Ostbosnien stattfand. Die Leugnung des Verbrechens nahm in den vergangenen Jahren zu. (Adelheid Wölfl, 10.7.2020)