Nach dem Tod von Seouls Bürgermeister Park hat die südkoreanische Hauptstadt fünftägige Trauer ausgerufen.

Foto: AFP

Seoul – Von der weltweiten Vorzeige- und Trendstadt zur schweren Sinnkrise dauerte es nur 24 Stunden. Südkoreas Hauptstadt Seoul und die progressive Politik des Landes sind vom plötzlichen Tod ihres beliebten Bürgermeisters Park Won-soon in einen Schockzustand geworfen worden. Park galt auch in seiner dritten Amtszeit als Chef der Zehn-Millionen-Stadt noch immer als eine der großen politischen Hoffnungen der südkoreanischen Linksliberalen. Der Tod des Bürgermeisters, auf den in Seoul eine fünftägige städtische Trauer folgt, richtet ein Schlaglicht auf gleich mehrere problematische Aspekte der sonst so glitzernden südkoreanischen Technik-, K-Pop- und Erfolgsfassade: darunter der Umgang mit Fehlern, Gesichtsverlust und Suizid – und zum anderen der in der Gesellschaft noch immer tief verankerte Sexismus.

Der ehemalige Menschenrechtsanwalt und frühere Kämpfer für Demokratie war einer der Favoriten für die Nachfolge von Präsident Moon Jae-in nach dem Ende von dessen Amtszeit im Jahr 2022. Am Donnerstag wurde er nun tot aufgefunden – nur wenige Stunden nachdem er sich von seiner Tochter mit kryptischen Worten und einer Notiz verabschiedet hatte und dann aus dem Haus gegangen war. Später wurde bekannt, dass es eine Beschwerde gegen ihn gegeben hatte. Wie Medien berichten, offizielle Stellen aber nicht bestätigen, soll eine ehemalige Sekretärin ihm sexuelle Belästigung vorgeworfen haben.

Kämpfer gegen Sexismus selbst angeklagt

Das verstärkt den Schock, in den viele die Nachricht vom Tod Parks versetzt hatte. Denn eigentlich galt der 64-Jährige als eine der wichtigsten Stimmen gegen Sexismus in der männlich dominierten südkoreanischen Politikelite. In den 1980ern hatte er unter anderem eine Studentin vor Gericht vertreten, die nach ihrer Festnahme bei einer Demonstration von Polizisten sexuell belästigt worden war. Später nahm er auch Fälle an, bei denen er jene Frauen vertrat, die während der japanischen Besatzung als Sexsklavinnen gehalten worden waren und von den Japanern euphemistisch "Trostfrauen" genannt wurden.

In den 1990ern gewann er sogar den allerersten südkoreanischen Gerichtsfall um sexuelle Belästigung: Eine Studentin hatte sich gegen Anzüglichkeiten eines Professors zur Wehr gesetzt. Gerade in Südkoreas konfuzianistisch-patriarchal geprägter, oft sexistischer Gesellschaft hatte er deshalb als wichtige Stimme gegolten.

Dass nun also gerade Park, der früh Südkoreas #MeToo-Bewegung unterstützte, nach einer mutmaßlich ähnlichen Anschuldigung Suizid beging, trifft viele ins Mark. "Er war jemand, den ich für einen Verbündeten gehalten hatte, der sich selbst als Feministen bezeichnete – wenn so jemand nach Anschuldigungen sexueller Verfehlungen einfach rausgeht und sich das Leben nimmt, dann kann man nichts mehr dazu sagen", schreibt eine Studentin, deren Tweet zur Angelegenheit oft wiedergegeben wurde.

"Darum stellt man keine Frauen ein!"

Zugleich lässt der Fall auch Südkoreas Medienwelt nicht gut aussehen. Sie berichtete am Donnerstag in schrillen Tönen über den Fall, mehrfach wurden Meldungen verbreitet, der Bürgermeister sei gefunden worden. Vor einem Spital in der Hauptstadt fand sich sogar eine Menschentraube ein, nachdem die Falschmeldung verbreitet worden war, dass Park sich dort in Behandlung befinde.

Auch dass es sich bei den Anschuldigungen überhaupt um einen Fall sexueller Belästigung handeln soll, ist von den Behörden noch nicht bestätigt – was Medien nicht daran hindert, nach der mutmaßlichen Anklägerin zu suchen. Mit Folgen: "Darum stellt man keine Frauen als Sekretärinnen ein!" findet sich als häufiger Kommentar zu der Geschichte, ebenso wie der Vorwurf, Frauen würden Angriffe erfinden, um Männer scheitern zu lassen. "Foto der Sekretärin" war am Freitag der meistgesuchte Begriff in Südkoreas Google-Suche.

Südkoreas Suizidproblem

Schließlich lenkt der Fall aber auch Augenmerk auf ein besonders häufiges Problem in Südkorea: Immer wieder kommt es nach Beschuldigungen, die mit einem Gesichtsverlust einhergehen, zu Suiziden. Allein in Parks eigener Regierung gab es seit 2010 ganze 16 Fälle, dazu kommen prominente Beispiele wie jenes des ebenfalls linksliberalen Ex-Präsidenten Roh Moo-hyun nach Korruptionsvorwürfen. Suizid ist die vierthäufigste Todesursache in Südkorea, innerhalb der OECD liegt das Land damit auf Rang zwei hinter Litauen, weltweit auf Platz zehn.

Die Ermittlungen gegen Park werden mit dem Fall jedenfalls eingestellt – in Südkorea erlöschen Anzeigen mit dem Tod des Beschuldigten. Für eine Anklägerin bedeutet das, dass es keine Verhandlung über die Vorwürfe und keine Verurteilung geben kann. Auch gibt es in Südkorea ein Delikt, mit dem die üble Nachrede gegen Tote geahndet werden kann, mit dessen "hartem" Einsatz drohte bereits der frühere Stellvertreter Parks, Moon Mi-ran. Aber auch für Beschuldigte gibt es so keine Möglichkeit zu einem Freispruch. (Manuel Escher, 10.7.2020)