Aleida Assmann über "Black Lives Matter": "Geschichte ist niemals abgeschlossen. Aber darin liegt auch die Chance für ein neues, verbindendes Narrativ."

Foto: Heribert Corn

Die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann hat als gelernte Anglistin wiederholt in den USA gelehrt. Ihr Lebensthema – Wie wird kulturelles Gedächtnis erarbeitet? – ist nicht nur in den Straßen Amerikas angekommen. Die Bedeutung und Funktion des Erinnerns prägen das Selbstbild von Nationen. Assmann, die in Konstanz lehrt, bringt für die aktuellen Denkmalstürmer viel Verständnis auf: "Eine Sensibilisierung hat stattgefunden. Jetzt muss mit dem Angebot ,Partizipation für alle‘ Ernst gemacht werden!"

STANDARD: Die Bürgerrechtsaspekte von Black Lives Matter bewegen die Weltöffentlichkeit. Das berühmte Robert-Musil-Wort von den Denkmälern, die niemand bemerkt, ist überholt. Gestandene Südstaatengeneräle, die bis eben als untadelige Helden galten, werden kurzerhand abmontiert. Was passiert da gerade?

Assmann: Ich habe soeben einen Aufsatz fertiggestellt: "Die Unsichtbarkeit der Denkmäler". Darin geht es mir um das permanente Changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Ich halte Musils Bild für verkürzt. Er verkennt, dass Denkmäler nicht nur in ihrer materiellen Form vorhanden sind. Zu ihnen gehören ebenso Handlungen. Die schlichteste: Man geht an ihnen vorüber. Aber sie werden auch eingeweiht, aus Anlass von Jahrestagen gründlich betrachtet oder ganz umgewidmet. Denkmäler vollziehen den Verlauf von Geschichte mit.

STANDARD: Sie veranlassen eine Vielzahl von Handlungen?

Assmann: Zur Erinnerung gehört beides: das Denkmal als Sicherstellung von Dauer. Dann gibt es Sicherungsformen der Wiederholung. Eine solche Praxis kann aus den Debatten bestehen, die sich um Denkmäler ranken. Gäbe es sie nicht, wären Denkmäler nichts anderes als Bäume. Das genannte Changieren hat in den USA eine transnationale Dynamik gewonnen. Bisher haben sich Denkmalzersetzungen immer auf bestimmte Communitys bezogen: Die waren mitunter transnational, wie nach 1990, als die Sowjetrepubliken zusammenbrachen und überall Lenin gestürzt wurde. Dieser Denkmalsturz bezog sich dennoch auf eine klar eingegrenzte Sphäre.

STANDARD: Das Geschehen hat sich dynamisiert?

Assmann: Die neue Qualität besteht darin, dass von Amerika der Funke überspringt. Das Problem beginnt, in anderen Ländern zu schwelen. Das hat mit dem Kolonialismus zu tun. Deutschland und Österreich scheinen davon nicht so stark betroffen, weil "unser" Kolonialismus eine Schicht tiefer liegt.

STANDARD: Besaß das deutsche Zweite Kaiserreich nicht bloß historisches Pech, bei der Verteilung der Kolonien spät dran gewesen zu sein?

Assmann: Deutschland war natürlich eine "verspätete" Nation. Aber als das Bismarck-Reich sich an den Tisch mit den anderen Nationen setzte, bestand seine erste Aufgabe darin, ein Imperium zu werden. Der Unterschied zwischen Nation und Reich besteht darin, dass eine Nation innerhalb von festen Grenzen existiert, eben weil sie Nachbarn hat. Ein Reich will sich permanent ausdehnen. Das Dritte Reich der Nationalsozialisten bildete eine Anomalie, insofern Hitler seine Kolonial- und Vernichtungspolitik auf europäischem Boden betrieb.

STANDARD: Die gemeinschaftliche Erarbeitung eines kollektiven Gedächtnisses erfordert große Anstrengungen. Wie lässt sich mit Blick auf die rassistische Überlieferung eine neue Balance herstellen?

Assmann: Denkmäler erzählen immer die Geschichte der Sieger. Die "Verlierer" müssen sich damit abfinden, keine Denkmäler zu besitzen. Ein Krieg aber, zu dem kein gemeinsames Narrativ entwickelt wird, schwelt weiter. Die Asymmetrie setzt sich symbolisch fort: Denkmäler bleiben stehen und verkünden die Siegerbotschaft.

STANDARD: Womit man sich in den USA nicht abfinden will.

Assmann: Wir erleben dort eine Gewalt zweiter Ordnung. Das Denkmal repräsentiert Gewalt, eben weil es die "andere" Geschichte verdrängt. Gewalt zweiter Ordnung heißt, dagegen aufzubegehren. Sie hebt Geschichte auf eine symbolische Ebene und bringt die Verlierer ins Bild zurück. Die Frage nach einer neuen Balance lässt sich mit US-Autor James Baldwin beantworten. Der dazugehörige Begriff wäre das "nationale Narrativ". Das Zerbrechen vieler Gesellschaften können wir am Fehlen eines solchen Narrativs festmachen. Baldwin äußerte 1969 in einer Rede: Es gibt einen einzigen Konsens in der weißen Gesellschaft, egal wie unterschiedlich die Menschen sind. Er lautet: Es ist ein großes Glück, nicht als Schwarzer geboren zu sein!

STANDARD: Ein unerhörter Satz.

Assmann: Man nennt ihn "Afropessimismus". Er bringt zum Ausdruck, dass es kein gemeinsames Verständnis von Menschentum gibt. Wenn wir an das Bild vom Menschen denken, nehmen wir die Schwarzen nicht mit. Es gibt einen weiteren Baldwin-Satz: Die Forderung nach Bürgerrechten bedeutet nicht nur, bessere Plätze im Bus zu bekommen. Sondern: Wir wollen Teil der Geschichte werden! Die Schwarzen sind nicht mit der Mayflower nach Amerika gekommen, sondern als verkaufte Sklaven gelandet. Das Versprechen der Verfassung, freie Bürger zu werden, gilt auch für sie. Selbst aus dem Sezessionskrieg ging kein gemeinsames Narrativ hervor – nichts, was eine Inklusion vorbereiten könnte. Aber Geschichte hat man niemals hinter sich. Die Missstände der Vergangenheit spielen in die Gegenwart bedeutsam hinein. Die "weiße" Geschichte müsste sich ihrerseits an die der Schwarzen anpassen.

STANDARD: Welche Art von Sensibilität tut not?

Assmann: Wenn wir den Riss verstehen wollen, müssen wir zurückblicken. Der Süden hat sich nie als Verlierer des Sezessionskrieges verstanden. Das hat zu einer Doppelmoral geführt. Der Stolz, das Aristokratentum des Südens, all das ergab eine mächtige Nostalgiekultur. Diese Strömung wurde als Gegenkultur des Landes stillschweigend akzeptiert. Als Nostalgie wäre das vielleicht hinzunehmen. Aber die Heroisierung z. B. des Ku-Klux-Klans findet ihren Niederschlag in den Institutionen und Handlungsformen. Es gibt einen "Tiefenstaat", ein Rückzugsgebiet, in dem eine Haltung weiterlebt und die Gesellschaft prägt. Das ist bei der US-Polizei der Fall. Es muss aber auf allen Ebenen der Gesellschaft eine Durchleuchtung geben, ein Tiefenröntgen. Das setzt die Bereitschaft für die Erarbeitung eines gemeinsamen Narrativs voraus. (Ronald Pohl, 11.7.2020)