Dramatische Stunden am Abend des 15. April 2019.

Foto: AFP / Geoffroy van der Hasselt

Die berühmte Kathedrale im Herzen von Paris soll "gemäß ihrem letzten vollständigen Zustand" restauriert werden – das gab das französische Präsidialamt bekannt. Emmanuel Macron übernimmt damit die Ansicht der Nationalen Kommission für Kulturerbe und Architektur (CNPA). Sie hatte am Donnerstag unter Leitung von Chefarchitekt Philippe Villeneuve vier Stunden lang über das zukünftige Erscheinungsbild der 800 Jahre alten Basilika diskutiert. Grundlage bildete ein 3.000-seitiger Bericht.

Die Empfehlung für einen originalgetreuen, ja gar "identischen" Wiederaufbau des Daches und des gotischen Spitzturms sei einstimmig gefallen, hieß es. Die endgültige Entscheidung liegt beim Staatspräsidenten.

Nach dem Großbrand im April 2019 bei Renovierungsarbeiten im Dachstuhl hatten Fachleute aus der ganzen Welt über die Art des Wiederaufbaus debattiert. Viel zu reden gaben auch ausgefallene Vorschläge – etwa eine begrünte Dachterrasse, ein kreuzförmiges Wasserbecken oder ein gläserner Dachreiter. Angeregt wurde sogar, das Kirchenschiff in seinem ausgebrannten Zustand mit einer Öffnung zum Himmel hin zu belassen.

Lautes Nachdenken

Macron wirbelte viel Staub auf, als er laut über eine "zeitgemäße architektonische Geste" nachdachte. Im Sinn hatte er vor allem den berühmten Pfeilturm "La Flèche" von Eugène Viollet-le-Duc von 1859. Diese filigrane, gotisch ziselierte Spitze ragte 96 Meter hoch über die Pariser Dächer und die beiden viereckigen Steintürme der Kathedrale, bevor sie vor laufenden Kameras in einem Funkenregen einstürzte.

Da die ursprünglichen Baupläne aus dem 19. Jahrhundert noch vorhanden sind, dürfte die Wiedererrichtung des Türmchens bis 2024 möglich sein. Dann finden in Paris die Olympischen Sommerspiele statt – und dann soll Notre-Dame auch wieder für Besucher und Pilger offenstehen.

Zu dem Zeitargument kommt ein politisches Signal. Macron verfolgt auf die Präsidentschaftswahlen 2022 hin einen pointierten Rechtskurs, um konservative Wähler zu gewinnen. In Umfragen hatte sich stets eine klare Mehrheit der Franzosen für eine originalgemäße Restauration ausgesprochen. Auch am Freitag äußerten Laien wie Experten fast unisono Zustimmung zu Macrons "Vorentscheidung", wie es der Élysée-Palast nennt.

Gestutzte Pläne Macrons

Von Macrons vormaligen modernen Ideen bleibt nicht viel: Der Präsident regt heute nur noch die Verwendung "nachhaltiger" Baustoffe an; seine "zeitgenössische Geste" beschränkt er auf das "Vorgelände der Kathedrale". Gemeint ist damit wohl die Parkanlage auf der Seine-Insel. Oder denkt der Präsident an eine moderne Skulptur auf der Esplanade vor dem Gotteshaus?

Die heikle Räumung und Sicherung der Brandruine dürfte jedenfalls Ende September abgeschlossen sein. Alsbald beginnt der per Computersimulation schon öfter durchgespielte Wiederaufbau. (Stefan Brändle aus Paris, 10.7.2020)