Es geht ums Geld. Noch am selben Tag, als über Tirols Corona-Hotspot Ischgl die Quarantäne verhängt wurde, riefen bei der Arbeiterkammer (AK) in Innsbruck die ersten besorgten Dienstnehmer an. Denn sobald sich abzeichnete, dass das Virus die Tourismusindustrie auf nicht absehbare Zeit zum Erliegen bringen wird, begannen Unternehmer damit, Mitarbeiter zu kündigen. Betroffen waren vor allem jene, die auf der untersten Stufe der Hierarchie in den Wintersporthochburgen stehen: Saisonarbeitskräfte, meist aus dem Ausland.

Recherchen des STANDARD in Kooperation mit der Augsburger Allgemeinen zeigen, dass versucht wurde, Betroffene um ihre Rechte und Geld zu prellen. Oft mit Erfolg. Darüber hinaus steht der Verdacht im Raum, dass Hoteliers versuchen könnten, mit gefälschten Arbeitsplänen Entschädigungsleistungen vom Staat zu erhalten.

"Unzählige Anfragen" von Saisonarbeitskräften

Allein in den Quarantänegebieten Paznauntal, St. Anton am Arlberg und Sölden waren im vergangenen Winter rund 3.000 ausländische Saisonarbeitskräfte beschäftigt. Sie kommen meist aus Osteuropa, aber auch aus Deutschland oder Österreich. Ihre befristeten Dienstverhältnisse gelten in der Regel von Anfang Dezember bis April, wenn die Skilifte wieder schließen. Sie sorgen dafür, dass die Zimmer in den Hotels sauber, die Gäste satt und zufrieden sind. Aber auch Seilbahnen oder Skischulen beschäftigen Saisonkräfte. Ab dem verordneten Lockdown saßen die meisten von ihnen in Tirol fest. Erst Ende März gelang es, ihre Heimreise zu organisieren.

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Zahlreiche Saisonarbeitskräfte meldeten sich bei AK und ÖGB, weil sie sich um ihre Rechte betrogen fühlen.
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Was in den Wochen zwischen Lockdown und Heimreise geschah, beschäftigt die Rechtsberater bei AK und Gewerkschaft (ÖGB). "Wir haben unzählige Anfragen erhalten, die Telefone sind heißgelaufen", sagt Tirols ÖGB-Vorsitzender Philip Wohlgemuth. Viele Unternehmer hätten versucht, ihre Mitarbeiter so schnell wie möglich loszuwerden. Um die ohnehin nur zweiwöchige Kündigungsfrist für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe noch zu verkürzen, wurde oft die "einvernehmliche Beendigung" des Dienstverhältnisses gewählt. Damit entfällt jede Kündigungsfrist.

Unwissenheit ausgenutzt

Das Problem dabei, wie Wohlgemuth erklärt: "Es ist im Nachhinein schwer nachvollziehbar, wie diese einvernehmlichen Lösungen zustande gekommen sind. Denn viele der Betroffenen sprechen nur wenig oder gar kein Deutsch und wussten offenbar nicht, was sie da unterschrieben haben." Das gehe aus den Anfragen hervor, die beim ÖGB zu diesem Thema eingingen. "Man kann von einem thematischen Cluster sprechen", so Wohlgemuth.

Ein dem STANDARD vorliegender Fall eines Hotels im Paznauntal zeigt die Problematik. Dort steht die Aussage mehrerer osteuropäischer Saisonarbeitskräfte gegen jene des Hoteliers. Sie behaupten, sie seien zur einvernehmlichen Beendigung ihrer Dienstverhältnisse gedrängt worden. Der Hotelier widerspricht dem und sagt, alles sei ordnungsgemäß abgelaufen.

Rechtliche Schritte schwierig

In den meisten Fällen könne man von moralisch verwerflichem Verhalten sprechen. "Rechtlich dagegen vorzugehen ist schwierig", erklärt Gewerkschafter Wohlgemuth. Denn die "einvernehmliche Beendigung" kann auch mündlich erfolgen. Die Beweisführung, dass es nicht so war, ist kaum möglich. Dazu kommt, dass viele der geschädigten Dienstnehmer auf rechtliche Schritte verzichten. Sie wollen ihre ehemaligen Chefs nicht verärgern, um auch im darauffolgenden Jahr wieder arbeiten zu dürfen.

Anders stellt sich der Ablauf aus Sicht der Tourismusbetriebe dar. Fast alle Arbeitskräfte hätten ihre Dienstorte schnellstmöglich verlassen wollen, sagt der Spartengeschäftsführer für Tourismus in der Tiroler Wirtschaftskammer (WKT), Peter Trost. "Der ÖGB suggeriert, dass es den Betrieben darum ging, Menschen über den Tisch zu ziehen." In Wahrheit seien die vielen einvernehmlichen Beendigungen der Arbeitsverträge für beide Seiten zufriedenstellend gewesen.

Zwei Dienstpläne

Im Zuge der Recherchen tat sich ein weiterer Verdacht auf. Es geht um mutmaßlich ungerechtfertigte Entschädigungsforderungen von Betrieben, die gemäß einer Verordnung nach dem Epidemiegesetz schließen mussten. Sie können vom Staat Entschädigung beantragen. Im Paznauntal und am Arlberg trifft das auf den Zeitraum vom 14. bis zum 25. März 2020 zu, als "alle Gastgewerbebetriebe zu touristischen Zwecken zu schließen" waren. Die davon Betroffenen konnten bis 6. Mai ihren Verdienstentgang sowie die während der Quarantäne anfallenden Lohnkosten geltend machen. Tirolweit wurden rund 15.000 solcher Anträge gestellt, in ganz Österreich mehr als 25.000. Das Gros der Forderungen betrifft Lohnkosten, da der geschätzte Verdienstentgang in Zeiten der weltweiten Corona-Krise relativ schwer zu berechnen ist, wie Experten sagen.

Nun herrscht Uneinigkeit, ob während der behördlichen Schließung der Tourismusbetriebe weitergearbeitet werden durfte oder nicht. Die WKT beteuert, dass es sich nur um ein Betretungsverbot für Gäste gehandelt habe. Arbeiten wie das Putzen hätten sehr wohl verrichtet werden können. Philipp Brokes von der AK Wien sagt hingegen, nicht nur Kunden und Gäste, sondern alle, auch das Personal, seien damit gemeint. Aus dem für die Entschädigungen zuständigen Gesundheitsministerium war dazu keine klare Antwort zu erhalten.

Auffällig viele Zufälle

Beim Fall der osteuropäischen Arbeitskräfte im Paznauntal fällt in dem Zusammenhang etwas auf: Deren Dienstverhältnisse wurden allesamt mit 25. März einvernehmlich aufgelöst. Also genau jenem Tag, bis zu dem ihre Lohnkosten im Zuge eines Entschädigungsantrages geltend gemacht werden konnten.

Wie vorliegende Unterlagen zeigen, hat der Hotelier seine Angestellten in der Quarantänezeit, also ab dem 14. März, aber weiter für Tätigkeiten im Haus eingesetzt – für Putzarbeiten wie zum Saisonabschluss üblich. Das belegt auch ein von allen unterschriebener Dienstplan für diesen Monat, auf dem diese Arbeitszeiten vermerkt sind. Doch es gibt eine zweite Version dieses Dienstplans, die den Mitarbeitern laut deren Aussage vorgelegt wurde, als man ihre Dienstverhältnisse Ende März einvernehmlich beendete. Auf diesem zweiten Plan ist nun bei fast allen Mitarbeitern von 14. bis 25. März vermerkt: "bezahlt frei wegen Quarantäne".

"Kein Kavaliersdelikt"

Für die Saisonarbeitskräfte machte diese Änderung keinen Unterschied, weshalb sie ihr keine Beachtung schenkten. Doch der Hotelier kann diese Lohnkosten nun im Rahmen eines Entschädigungsantrages geltend machen, da sie demnach nicht gearbeitet hätten. Für ÖGB-Chef Wohlgemuth liegt angesichts dieser Fakten der Verdacht nahe, dass dies die Absicht hinter der nachträglichen Änderung sein könnte: "Dienstpläne zu fälschen ist kein Kavaliersdelikt, sondern Betrug." Warum sollte der Hotelier dieses Risiko eingehen, wenn er sich davon keinen Vorteil verspricht? Dazu wollte er keine Stellungnahme abgeben, nur so viel: Er habe seine Mitarbeiter stets fair und korrekt behandelt.

Wie sehr im Nachhinein um Geld gefeilscht wird und dass es sich dabei keineswegs um Einzelfälle handelt, bestätigt auch AK-Jurist Thomas Radner, der mit seinem Team zahlreiche Anfragen von Saisonarbeitskräften betreut: "Da geht es um jeden Tag, den man nicht zahlen will." (Steffen Arora, Laurin Lorenz, Werner Reisinger, 11.7.2020)