Die Frau ohne Eigenschaften war gelangweilt. Draußen donnerte die Hitze ungebändigt auf den Asphalt. Keine Aussicht auf ein Lüftchen. Antriebslos lümmelte sie auf der Couch und hörte Alice Phoebe Lou das Lied über den Tiger im Zoo singen. Ein paar Liedzeilen blieben ihr besonders in Erinnerung: "In your dreams you were flying through the trees, but when you woke up, you were behind a lock and key".

"Soll ich auf eine Sommerbrise in den Tiergarten gehen?", fragte sich Lena und sogleich schrieb sie wie wild ihren Freunden, ob wer Lust hätte mitzukommen. Doch niemand hatte Zeit. "Wie sie alle immer so beschäftigt sind im Sommer! So ruhelos! So busy!", dachte Lena kopfschüttelnd.

Dennoch. Der Entschluss war gefasst. Sie würde in den Tiergarten gehen. Als Kind hatte sie die Ausflüge dorthin geliebt. Sofort brach sie auf, schwang sich auf ihren Drahtesel und rollte los – den Tieren entgegen. Ihre Motivation? Sie wollte herausfinden, worin überhaupt der Reiz lag, Tiere zu betrachten.

Hinter Gittern

Nachdem das Ticket bezahlt war, trat Lena unter die Kastanienbäume, die schon pralle, aber noch kleine Kugeln trugen. "Erst einmal orientieren!", sagte sich die Frau ohne Eigenschaften. Sie sah schon die schimmernde Seehundhaut in der Ferne. Zur rechten beobachtete sie das Antilopenmännchen mit dem dunklen Pfeifenputzerschwanz.

Später im Aquarienhaus würde ihr die Gepunktete Wurzelmundqualle am besten gefallen, die über den Grund schwebte und einem Pilz ähnelte, wie man ihm womöglich nur in Träumen begegnete. Tief dunkel und farblos inszenierte er seinen Tanz. Schleierhaft verweilte die Frage, wohin er zog. Mit feingliedrigen Fäden taumelte er durch das Nichts, vorwärts hantelnd durch das Seidenmeer.

"Warum sehen wir Tiere an?", fragte sich schon der Kunstkritiker John Berger in seinem gleichnamigen Aufsatz und Lena überlegte: "Ist diese Frage nicht etwas verkürzt? Wir sehen sie ja nicht nur bloß an, wir sperren sie ein, wir sind übergriffig und halten sie in unseren Wohnungen fest, wir wollen sie besitzen und wir züchten sie zu unserem Vorteil, machen sie so klein bis bis sie wie die Chihuahuas die größten Kulleraugen der Welt haben. Und dann wundern wir uns, wenn sie wie der Tiger in Alice Phoebe Lous Lied sagen: Who the fuck are you to put me in a zoo?"

Struktur und Gerüst
Foto: Katharina Ingrid Godler

Ein neues Kapitel

Die lähmende Schwüle eines zu langen Julitages erschwerte es, sich der Frage zu widmen, warum wir Tiere betrachten. Lena sagte sich: "Zumindest weiß ich jetzt, dass Tiere betrachten immer noch spannender ist, als auf der Couch herumzufläzen." Und auch wenn es heiß war, im Tiergarten zog das Lüftchen immerhin seine Kreise.

Zoologin würde sie keine werden. Ganz so ungewiss war es nach einem Jahr Auszeit nicht mehr, welchen Pfad die Frau ohne Eigenschaften wählte. Die Richtung war klar. Die Welt lag ihr zu Füßen und sie würde ihren Weg mit allen ihren lieben Freunden, mit den Tieren, mit der Natur und der Literatur beschreiten, ohne dabei besitzergreifend zu werden. Es ging ihr darum, die Schönheit der Welt zu Papier zu bringen. (Katharina Ingrid Godler, 23.7.2020)

Fingerzeig

  • Das Zitat am Anfang des Blogbeitrags stammt aus dem Lied The Tiger von Alice Phoebe Lou
  • Der Aufsatz ‚Warum sehen wir Tiere an?‘ stammt aus dem Band Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens (1981) und beschäftigt sich mit der medialen Präsenz von Tieren in Büchern, Filmen und als Spielobjekte.
  • Musikalische Begleitung: Chihuahua – DJ BoBo

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