Ökonominnen und Ökonomen sollten sich stärker als bisher in die inter- und transdisziplinäre Forschung einbringen, fordern Wissenschafterinnen und Wissenschafter von der WU Wien, der Universität Wien, der Boku, der Modul University und der Universität Graz, Ernest Aigner, Viviana Asara, Ulrich Brand, Louison Cahen-Fourot, Andreas Exner, Stefan Giljum, Christoph Görg, Helmut Haberl, Daniel Hausknost, Christian Kerschner, Mathias Kirchner, Asjad Naqvi, Christina Plank, Manuel Scholz-Wäckerle, Tone Smith, Sabine Sedlacek, Clive Spash, Sigrid Stagl im Gastkommentar.

Um das in Paris 2015 beschlossene 1,5-Grad-Celsius-Ziel zu erreichen, sind schnelle, umfassende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen notwendig. Für diese gibt es kein historisches Vorbild. Daher werden neue Wege, die gesellschaftlichen Wohlstand, soziale Inklusion und ökologische Nachhaltigkeit mit den Klimazielen von Paris vereinbaren, theoretisch und empirisch erforscht.

Rebound-Phänomen

In einem jüngst erschienen Beitrag legen Harald Badinger und Jesus Crespo Cuaresma von der Wirtschaftsuniversität Wien dar, dass sich Ökonominnen und Ökonomen schon lange mit den Umweltauswirkungen der Wirtschaft beschäftigen. In Bezug auf Entkopplung untersuchte William Stanley Jevons bereits vor 150 Jahren das Phänomen des Reboundeffekts: Der effizientere Einsatz von Ressourcen wie Rohstoffen oder Energie führt oftmals nicht zu weniger, sondern zu mehr Verbrauch. So sind viele Fahrzeuge heute zwar effizienter im Spritverbrauch, gleichzeitig gibt es immer mehr Autos, und es werden mehr Kilometer gefahren, bei steigendem Durchschnittsgewicht der Fahrzeuge. Das Resultat: mehr Emissionen im Straßenverkehr statt weniger. Dieser Reboundeffekt ist einer der vielen Gründe, die einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch sowie Umwelteinwirkungen entgegenstehen.

Effizienterer Ressourceneinsatz: mehr, nicht weniger Autos.
Foto: AFP / Philippe Desmazes

Die Empirie bestätigt dies. Kürzlich kamen Forscherinnen und Forscher der Universität für Bodenkultur in einem systematischen Review von mehr als 800 wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu dem Ergebnis, dass eine "schnelle absolute Reduktion von Ressourcenverwendung und Treibhausgasemissionen nicht mit den bisher empirisch beobachteten Entkopplungsraten" erreicht werden kann, wenn die Wirtschaft weiter wächst. Zum selben Ergebnis kommen Studien von Forscherinnen und Forschern der Wirtschaftsuniversität Wien. Die Klimaziele können daher mit hoher Wahrscheinlichkeit nur erreicht werden, wenn das Wirtschaftswachstum global zurückgeht und sich reiche Ökonomien wie Österreich auf einem deutlich niedrigeren Verbrauchsniveau stabilisieren.

Aussagekräftige Kennzahlen

Die Mainstream-Ökonomik hat solche Herausforderungen ebenso wie den Klimawandel vernachlässigt. So hat Nicholas Stern 2006 einen breit rezipierten Bericht vorgelegt, in dem er allerdings später selbst grundlegende Fehler eingestehen musste. Letztes Jahr legte er weiters mit Andrew Oswald empirisch dar, dass Klimawandel ein Randthema in der volkswirtschaftlichen Forschung ist. Letzteres ist nicht verwunderlich, zeigen doch Studien ihre unterdurchschnittliche Interdisziplinarität und Konzentration auf Publikationen weniger Forscherinnen und Forscher. In ihrem Zentrum steht der Begriff des Wirtschaftswachstums, den seit 1960 im Schnitt jede siebente Veröffentlichung verwendet. Entsprechend meidet die Mainstream-Ökonomik Degrowth- und Postwachstumsforschung und untersucht Lebensqualität, Bildung und andere Indikatoren für gesellschaftliches Wohlergehen fast nur in Bezug auf das Wirtschaftswachstum.

Ein Fokus auf aussagekräftigere Kennzahlen für gesellschaftliches Wohlergehen wäre hilfreicher. Entsprechende Indikatoren gibt es und sind der breiten Öffentlichkeit zugänglich, wie zum Beispiel der Better-Life-Index der OECD. Obwohl wirtschaftliches Wachstum in manchen Perioden mit Wohlstandsindikatoren korreliert, darf Korrelation nicht mit Kausalität verwechselt werden. So kann aus der in bestimmten Perioden beobachteten Korrelation von Wachstum mit dem Rückgang monetär gemessener Armut nicht gefolgert werden, dass Armutsreduktion nur mit Wachstum erreicht werden kann. Zahlreiche Studien zeigen, dass Armut viele Dimensionen hat und Ungleichheiten in Teilen der Welt sogar wegen des Wachstums zugenommen haben.

Instabiles Wachstum

Zugleich fanden große Teile der "globalen" Armutsreduktion in China statt, einem autoritären politischen System und dem größten Kohleförderer weltweit. Diesen Mangel an Freiheit und ökologischer Nachhaltigkeit legen aussagekräftige qualitative Kennzahlen offen. Analysen, die Wirtschaftswachstum im Fokus haben, helfen dabei nicht. Protestbewegungen wie Black Lives Matter, Extinction Rebellion und Fridays for Future signalisieren weitaus brennendere Probleme. Entsprechend sind Studien zu Sozial-, Verteilungs- und Umweltzielen sowie der Sicherung politischer Rechte wesentlich.

Wie Badinger und Crespo Cuaresma darlegen, sind soziale, ökonomische und politische Systeme gegenwärtiger Gesellschaften ohne Wachstum instabil. Darüber hinaus strukturieren biophysische Prozesse die Wirtschaft, wie die Ökologische Ökonomie auf Basis der Thermodynamik darlegt. Daher beschäftigen sich Forscherinnen und Forscher mit der Frage, wie Wohlstand für alle erreicht werden kann, während Wirtschaftswachstum reduziert wird. Ähnliches hat Ökonomen wie Smith, Malthus, Mill, Marx, Keynes, Schumpeter und seinen Studenten Georgescu-Roegen beschäftigt. Die Degrowth- und Postwachstumsforschung hat zu einer Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen geführt, in denen kritische Felder wie Pflege, Geschlechtergerechtigkeit, Technologie, Geldwesen, Verteilung, Arbeit, Demokratie, Ernährung und soziale Sicherung analysiert werden. Diese werden auf Konferenzen wie der kürzlich von Wien aus organisierten Onlinekonferenz mit 4.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und Aktivistinnen und Aktivisten diskutiert, um einen gesellschaftlichen Austausch zu ermöglichen.

Überkommene Dogmen

Für Gesellschaften, die seit mehr als 60 Jahren auf ökonomisches Wachstum ausgerichtet sind, ist die Hinwendung zu einem guten Leben für alle eine Herausforderung. Allerdings trägt Wirtschaftswachstum in vielen Ländern längst nicht mehr zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung bei. Die Forschung zur lebenswichtigen Frage, wie gesellschaftliches Wohlergehen jenseits des Wirtschaftswachstums sichergestellt werden kann, findet großteils außerhalb der vom Mainstream geprägten Volkswirtschaftsfakultäten statt.

Der Kommentar von Badinger und Crespo Cuaresma signalisiert, dass mächtige Akteure, die davon profitieren, dies perpetuieren wollen. Ihr Ignorieren der aktuellen Forschung ist beschämend, denn es ist ein zentrales Kriterium wissenschaftlicher Argumentation, den gegenwärtigen Forschungsstand adäquat zur Kenntnis zu nehmen. Sie verkennen grundlegende ökonomische Zusammenhänge und verfehlen den Fokus auf gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen. Im Interesse der Ökonomik, ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Wissenschaft und eines guten Lebens für alle heute und morgen ist dies nicht. Gesellschaftlich hilfreicher und wissenschaftlich spannender wäre es, würden wir in der Volkswirtschaftslehre gemeinsam mutig neue Wege suchen, statt überkommene Dogmen zu verteidigen. (Ernest Aigner, Viviana Asara, Ulrich Brand et al., 13.7.2020)