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Millionen Zuschauer sahen in den Fernsehberichten die weißen Stelen des Friedhofs.

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Zum 25. Jahrestag des Massakers bei Srebrenica in Bosnien gedachten dieser Tage nicht nur die direkt betroffenen Verwandten der 8372 bisher namentlich bekannten muslimischen Opfer und mit ihnen die ganze bosniakische Volksgruppe des größten Kriegsverbrechens seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Fast 50 Staats- und Regierungschefs, UN-Generalsekretär António Guterres und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen waren per Video der Gedenkveranstaltung zugeschaltet. Millionen Zuschauer sahen in den Fernsehberichten die weißen Stelen des Friedhofs, unter denen die sterblichen Überreste der meisten der bisher gefundenen und identifizierten 7000 Opfer liegen. "Es war Völkermord", sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "So hat es der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien unmissverständlich festgestellt."

Für die in wenigen Tagen ausgeführten Massenexekutionen waren die bosnisch-serbischen Militäreinheiten unter General Ratko Mladić verantwortlich. Mladić und der bosnische Serbenpräsident Radovan Karadžić wurden vom Haager Tribunal wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. TV-Dokumentationen, Sachbücher und unzählige Zeugenaussagen haben in den letzten Jahren die Vorgeschichte und den Ablauf samt der Mitverantwortung der untätigen niederländischen UN-Soldaten und der Nato beschrieben.

Trotz der weltweiten Beachtung des Srebrenica-Gedenktags kann aber von einer Aufarbeitung des schlimmsten europäischen Kriegsverbrechens seit 1945 nicht einmal vor Ort in Srebrecina, geschweige denn in Bosnien und Serbien gesprochen werden. In einer 2019 veröffentlichten Studie des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Demostat wussten vierzig Prozent der Befragten Serben nicht, dass bei Srebrenica im Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen rund 8000 muslimische Jugendliche und Männer systematisch erschossen, und siebzig Prozent ahnten auch nicht, dass 1992 bis 1996 bosnisch-serbische Einheiten Sarajevo belagert und über 11.000 Menschen getötet hatten.

Besonders bedenklich ist ein "Spiegel"-Bericht am Gedenktag aus Srebrenica, dass selbst in dem Ort, wo alles begann, bis hinauf in die Staatsspitze Serbiens und des serbischen Teilstaats in Bosnien der Völkermord an den bosnischen Muslimen systematisch relativiert und bestritten wird. Einer der wenigen Überlebenden der Erschießungen, Nedžad Avdić (42), wohnhaft in Srebrenica, sagte dem "Spiegel", die Stadt sei heute in der Hand von Völkermordleugnern und Sympathisanten der Kriegsverbrecher. "In den serbischen Schulen wird die durch Gerichtsurteile bestätigte Wahrheit nicht gelehrt", beschwerte sich der bosniakische Vizebürgermeister der Stadt, und der Vertreter der Muslime im bosnischen Staatspräsidium, Šefik Džaferović, forderte die Weltgemeinschaft auf, das Leugnen des Völkermords und die Verehrung der Verantwortlichen durch serbische Führer nicht mehr hinzunehmen.

25 Jahre nach der Tragödie zeigen die Macht des Schweigens und das Versagen der internationalen Gemeinschaft, dass Bosnien ein "Land des Hasses und der Angst" geblieben ist (Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić 1920). (Paul Lendvai, 13.7.2020)