Im Corona-Jahr feiert Frankreich den heutigen Nationalfeiertag kleiner. Nach der grünen Welle bei den Kommunalwahlen hat Präsident Emmanuel Macron einen ökologischen Wiederaufbau angekündigt. Grün liegt im Trend. Dabei hatte es grüne Politik in Frankreich nie leicht, erinnert Joëlle Stolz, ehemalige "Le Monde"-Korrespondentin in Wien, im Gastkommentar.

Raus aus dem Auto, rauf aufs Vélo: Die wiedergewählte rote Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat eine grüne Agenda.
Foto: AFP / Thomas Samson

Marseille, Lyon, Bordeaux, Besançon, Grenoble, Straßburg – und Paris, wo die Sozialistin Anne Hidalgo dank einer ökologischen Agenda wiedergewählt wurde: Eine grüne Welle hat Ende Juni bei den Gemeinderatswahlen Frankreich erobert. Auch wenn die Wahlbeteiligung sehr niedrig war, ist es ein klares Signal. Im Herbst 2019 hatte schon eine Umfrage gezeigt, dass für 85 Prozent der Franzosen die Umwelt absolute Priorität habe. Noch vor den Jobs.

Meine Landsleute waren sehr lange "ökologieresistent". Der erste grüne Kandidat, der Agronom René Dumont, hat 1974 bei der Präsidentschaftswahl 1,32 Prozent der Stimmen erhalten. In den folgenden Jahrzehnten sind die Grünen – außer bei Europawahlen – meistens unter 3,5 Prozent geblieben und haben nur Klappsitze in sozialistischen Regierungen bekommen. Ein Joschka Fischer als Außenminister war jedenfalls undenkbar. Die grüne Ministerin Cécile Duflot hat von einem "Bonsai-Komplex" gesprochen, um diese Kleinparteien, die "nicht wachsen wollen", zu beschreiben.

Heilige Allianz

Diese anhaltende Skepsis erklärt sich vor allem damit, sagt Le Monde-Journalist Stéphane Foucart, dass "die Aristokratie der französischen Wissenschafter, die Physiker, eine heilige Allianz mit de Gaulle geschmiedet hat". Der Gaullismus, der Nuklearwaffen als Garantie der nationalen Unabhängigkeit sah, hat in den 1960er-Jahren ein gewaltiges nukleares Zivilprogramm entwickelt. Der Sektor steht heute für 220.000 Arbeitsplätze und schlug Alarm, als Emmanuel Macron 2017 den populären Nicolas Hulot zum Umweltminister ernannte. 15 Monate später nahm dieser seinen Hut, weil er der Macht der Atom- und Agrarindustrie zu oft unterlegen war.

Dass viele Franzosen neben 19 Atomkraftwerken friedlich schlafen können, lässt Deutsche und Österreicher staunen. 1974 erreichte dieses Vertrauen 76 Prozent – "Frankreich hat kein Erdöl, dafür Ideen", war damals das Motto der Pariser Regierung. Nach Tschernobyl haben die Chefs der Nuklearindustrie behauptet, unsere Kraftwerke seien viel sicherer – was nicht ganz falsch war. Die öffentliche Meinung hat aber allmählich das wachsende Problem der Nuklearabfälle wahrgenommen. Ein Meilenstein war 1977 die riesige Demonstration gegen das Kraftwerk Superphénix in Creys-Malville (die neue Bürgermeisterin von Marseille, Michèle Rubirola, war damals dabei). Aber die meisten Franzosen finden es eher gut, dass 71 Prozent ihrer Elektrizität durch die "saubere" Atomenergie produziert werden.

Suspekter Natur-Kult

Die Wurzeln dieser Mentalität sind älter als der Gaullismus. Ein "kartesianisches" Frankreich und ein "romantisches" Deutschland sind zwar Klischees, aber unsere Eliten haben das Erbe der Aufklärung stolz beansprucht. Im 19. Jahrhundert war der Kult der Vernunft Kontrapunkt zur "göttlichen Ordnung" eines reaktionären Katholizismus. Der Kult der Natur war hingegen immer suspekt. Der völkische Diskurs des Kollaborateurs Philippe Pétain, der die Bauern gelobt hat ("Die Erde lügt nicht"), um Kosmopolitismus und Internationalismus abzulehnen, wurde nie vergessen. Ökologiekritiker haben stets daran erinnert, dass die Nazis Juden und Roma vernichtet, sich aber um das Wohl der Tiere gekümmert haben.

Die durch ihren Kampf in der Résistance geheiligte Kommunistische Partei – nach 1945 hat sie bis zu 25 Prozent der Wähler überzeugen können – hat dabei auch eine Rolle gespielt. Die marxistische PCF hat den Produktivismus gefördert und (trotz der von Stalin so geliebten "proletarischen Wissenschaft") ihr Prestige mit der Mitgliedschaft hochkarätiger Wissenschafter wie Frédéric und Irène Joliot-Curie, einer Tochter von Marie Curie, erweitert. Kommunisten, Sozialisten und Gaullisten haben sich in dem "manchmal unvernünftigen Glauben an den technischen Fortschritt" gefunden, schrieb Lucile Schmid 2016 in La France résiste-t-elle à l’écologie? ("Ist Frankreich ökologieresistent?"). Sogar unser Feminismus hat dazu beigetragen. Er zieht das Universelle der Differenz vor und steht dem Begriff einer "weiblichen Natur" sehr kritisch gegenüber: Elisabeth Badinter zweifelt bekanntlich an der Existenz eines mütterlichen Instinkts. Anders als im deutschsprachigen Raum bringen viele Französinnen ihre Babys zur Krippe, und 82 Prozent wählen bei der Geburt eine Kreuzstichanästhesie – weltweit die höchste Rate.

"Grüne Khmers"

Diese Grundeinstellung erklärt, warum bei uns auch linke Politiker die "grünen Khmers" gegeißelt haben. Sie lieben mehr den Planeten als die Menschen, war ihr Vorwurf. Der sozialistische Premier Lionel Jospin hatte als Minister für Bildung und Forschung den streitbaren Geologen Claude Allègre eingesetzt, der nie müde wurde, in allen Medien den "Betrug der Klimaerwärmung" zu denunzieren. So hat dieses Mitglied unserer Akademie der Wissenschaften dauerhaft eine Änderung der Politik behindert. Erst vor kurzem haben "grüne" Intellektuelle wie der Philosoph Bruno Latour oder der Anthropologe Philippe Descola mehr Gehör gefunden.

Jetzt wollen alle Parteien grün sein: Sogar der rechtsradikale Rassemblement National von Marine Le Pen empfehlt kurze, regionale Nahrungsmittelketten. Frankreich hat sich geändert. (Joëlle Stolz, 14.7.2020)