“Armut ist eine politische Entscheidung, und sie wird uns begleiten, bis ihre Beseitigung als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit begriffen wird.” Mit diesen Worten schließt Philip Alston, der scheidende UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, seinen Abschlussbericht an die UNO, der vergangene Woche veröffentlicht wurde. Dieses Jahr übergab Alston den Posten an seinen Nachfolger Olivier de Schutter und geht zum Abschuss seines Mandats mit den Vereinten Nationen und deren Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs), hart ins Gericht. Im Kampf gegen die globale Armut gebe es kaum Fortschritte und durch Coronavirus-Pandemie und Klimakrise könnte sich die Situation für viele Menschen enorm verschlechtern. Der dominante Maßstab zur Messung extremer Armut ist laut Alston viel zu niedrig angesetzt und die aktuellen Strategien zu ihrer Beseitigung weder nachhaltig noch zielführend.

Selbstgefällige Botschaft

Im Bericht mit dem Titel „Der prekäre Zustand der Armutsbekämpfung“ erkennt Alston zwar einige globale Fortschritte an, es überwiegt aber deutlich die Kritik. Diese äußert er auch namentlich, etwa an liberalen Denkern wie Steven Pinker, Kommentatoren der Weltwirtschaft wie Martin Wolf und den Nobelpreisträgern Abhijit Banerjee und Esther Duflo. Prominente Stimmen wie sie und führende Politikerinnen und Politiker hätten seit Jahren eine „selbstgefällige Botschaft über die Fortschritte im Kampf gegen die Armut“ verkündet. In Wirklichkeit sind die Fortschritte viel geringer, was auch am grundlegend falschen Maßstab liegt, der in der Regel angewendet wird: die von der Weltbank festgelegte internationale Armutsgrenze von 1,90 Dollar pro Kopf und Tag.

Als extrem arm gelten demnach Menschen, deren Einkommen unter dieser Schwelle liegt. Ihre Zahl sank von 1,9 Milliarden im Jahr 1990 auf 736 Millionen im Jahr 2015 und damit von etwa 36 auf zehn Prozent der Weltbevölkerung. Das Problem: „Die Internationale Armutsgrenze ist ausdrücklich so konzipiert, dass sie einen erschreckend niedrigen Lebensstandard widerspiegelt, der weit unter jeder vernünftigen Vorstellung von einem Leben in Würde liegt“, so Alston. So setzt etwa die US-Regierung allein für die minimal notwendigen Ausgaben einer US-Bürgerin für ihre täglichen Lebensmittel 5,04 Dollar am Tag an, also mehr als doppelt so viel wie die internationale Armutsgrenze. In Österreich liegt das Existenzminimum bei 909 Euro, also rund 30 Euro pro Tag. Das zeigt die Doppelmoral in der Entwicklungspolitik: Während es unvorstellbar erscheint, dass ein Mensch in Österreich mit zwei Euro täglich überleben kann, gilt jemand aus einem Land im Globalen Süden damit als aus der Armut gehoben. Wichtig ist dabei auch: Die Armutsgrenze ist kaufkraftbereinigt, die 1,90 Dollar sind also in ärmeren Ländern nicht deutlich mehr wert.

Die 1,90-Dollar-Grenze ist zudem dramatisch niedriger als die nationalen Armutsgrenzen in praktisch allen Ländern der Welt. Während im Sinne der internationalen Armutsgrenze null Prozent der Menschen in Thailand als extrem arm gelten, sind es laut nationalem Maßstab knapp zehn Prozent, in Südafrika sind es 19 Prozent gegenüber 55 Prozent. Zudem würde laut Alston ein zu großer Fokus auf die Weltbank-Armutsgrenze sowohl Gender-Unterschiede verschleiern (etwa da Ressourcen in Familien zu Ungunsten von Frauen ungleich verteilt sind) als auch ganze Gesellschaftsgruppen wie Wanderarbeitende oder Geflüchtete ausblenden.

Obwohl sich die Weltbank der Unzulänglichkeiten ihrer 1,90-Dollar-Armutsgrenze im Klaren ist, bleibt diese weiter ihr wichtigster Maßstab im Kampf gegen die Armut. Das ist vor allem darum ein Problem, weil es großen Einfluss auf die Politik und damit die von ihr ergriffene Maßnahmen hat. So basieren etwa auch die UN-Nachhaltigkeitsziele auf der Armutsgrenze der Weltbank. 

Setzt man ehrlichere Maßstäbe an, zeigt sich: die globale Armut nimmt kaum ab. Zwischen 1990 und 2015 sank die Zahl der Menschen, die mit weniger als 5,50 Dollar pro Tag auskommen müssen, nur von 3,5 auf 3,4 Milliarden oder von 67 Prozent auf 46 Prozent. Und nicht einmal unter den optimistischsten Annahmen der Weltbank und mit der niedrigen 1,90-Armutsgrenze wird die Zahl der extrem Armen 2030 bei null liegen. Im Gegenteil: Die gegenwärtige Pandemie und die Klimakrise könnten dafür sorgen, dass sich die Armut in den kommenden Jahren weiter verschlimmert.

Ziele für nachhaltige Entwicklung verändern

Die SDGs sind laut Alston nicht mehr angemessen und müssen überholt und an die derzeitige globale Situation angepasst werden. Das bedeutet nicht nur, dass Armut anders gemessen werden muss. Die UN müssen auch die Strategien zu ihrer Bekämpfung verändern. Zentral dafür ist es, die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung neu zu begreifen. Denn dieses trägt viel weniger als oft behauptet dazu bei, den Ärmsten einen menschenwürdigen Lebensstandard zu bringen. „In zu vielen Fällen treten die versprochenen Vorteile des Wachstums entweder nicht ein oder werden nicht verteilt“, schreibt Alston. Das zeigen auch die Zahlen: Zwischen 1980 und 2016 wanderten 27 Prozent des globalen Einkommenszuwachses auf die Konten des reichsten ein Prozent. Im Jahr 2017 bekam dieses eine Prozent sogar 82 Prozent allen neu erwirtschafteten Vermögens. Derweil wächst das Einkommen der Ärmsten langsamer als das BIP. 

Bei Fortsetzung historischer Wachstumsraten und ohne negative Auswirkungen des Klimawandels (ein unrealistisches Szenario) würde es mit dieser Strategie 100 Jahre dauern, die Armut im Sinne der 1,90-Dollar-Armutsgrenze zu beseitigen und 200 Jahre bei fünf Dollar pro Tag. Dafür brächte es eine 15- beziehungsweise 173-fache Erhöhung des globalen BIP. Allein angesichts des engen Zusammenhangs zwischen Klimaerhitzung und Wachstum kein wünschenswertes Ziel.

Die Ärmsten erhalten nur einen kleinen Anteil des globalen Wirtschaftswachstums.
Foto: pexels.com/@riyakumari08 (CC0)

Umverteilung statt Philanthropie

Zentral für die Verbesserung der SDGs und damit die Beseitigung der Armut sind darum für Alston Umverteilung und gerechte steuerliche Maßnahmen. Letztere sind bisher in den SDGs kaum ein Thema – und international ist im Gegenteil vor allem Steuerhinterziehung und -dumping zu beobachten: Im Jahr 2015 verlagerten multinationale Unternehmen schätzungsweise 40 Prozent ihrer Gewinne in Steuersümpfe. Die weltweiten Unternehmenssteuersätze sind von durchschnittlich 40,4 Prozent im Jahr 1980 auf 24,2 Prozent im Jahr 2019 gesunken.

Auch die Rolle von privaten Akteurinnen und Akteuren und Philanthropie in der Armutsbekämpfung sollte sich zugunsten von staatlichen Akteuren verringern. Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer neuen Studie mehrerer internationaler Hilfsorganisationen über eine entwicklungspolitische Agrarallianz in Afrika, die von der Bill-&-Melinda-Gates-Foundation mitfinanziert wird. Der konzerngetriebene und auf technologische Lösungen fixierte Ansatz der Initiative tauge nicht zur Beendigung des Hungers. Stattdessen würden Bauern gezwungen, ihre Mischkulturen aufzugeben und in der Schuldenfalle landen und nährstoffreiche traditionelle Pflanzen verdrängt. 

Der kürzlich präsentierte jährliche Welternährungsbericht der UN unterstreicht die Notwendigkeit, auch die Strategien gegen den globalen Hunger zu verändern: Aktuell hungern rund 690 Millionen Menschen oder 8,9 Prozent der Weltbevölkerung, zwei Milliarden sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Seit 2014 nehmen diese Zahlen wieder zu und bis 2030 könnte die Zahl der Hungernden auf über 840 Millionen ansteigen.

Eine Frage der Möglichkeiten

Je nachdem, welchen Maßstab man ansetzt, hat sich die globale Armut in den letzten Jahrzehnten also entweder deutlich verringert, ist nur leicht gesunken oder sogar angestiegen. Von selbsternannten Optimisten wird kritischen Stimmen wie Alston entgegengehalten, dass die meisten Menschen vor allem in Ländern des Globalen Nordens die Situation deutlich zu negativ einschätzen würden. Und Befragungen zeigen tatsächlich, dass ein großer Teil der Menschen denkt, die globale Armut würde steigen. Doch auch wenn das faktisch ebenso falsch sein sollte, wie übertriebener Triumphalismus: Nutzt dieser der Sache mehr als eine gesunde Skepsis und Kritik an Missständen? Wohl kaum. Der Einsatz gegen die globale Armut ist trotz des großen Problembewusstseins der Bevölkerung in den meisten Ländern kaum ein politisches Thema.

Außerdem muss Armut im Kontext betrachtet werden. So argumentiert Jason Hickel von der University of London, dass wir Armut moralisch danach bewerten sollten, wie groß unsere Kapazität ist, sie zu beenden. Und diese Kapazität, also die globale Wirtschaftsproduktion, nahm in den letzten Jahrzehnten deutlich stärker zu als die Einkommen der Ärmsten anstiegen. Während es im Jahr 1990 10,5 Prozent des weltweiten BIP gekostet hätte, alle Armen über eine menschenwürdige Armutsgrenze von 7,40 Euro pro Tag zu heben, waren es im Jahr 2013 nur 3,3 Prozent, so Berechnungen von Hickel. 

Die Menschheit hätte also ohne Zweifel die Möglichkeit, Armut schnell und entschlossen zu beenden. Dafür müssen aber die Limits aktueller Strategien anerkannt und Veränderungen vollzogen werden. Was im 20. Jahrhundert für einige Fortschritte gesorgt hat – wenn auch auf Kosten unserer natürlichen Lebensgrundlagen und an den Rand gedrängter Gruppen der Gesellschaft – ist im neuen Jahrtausend nicht mehr zielführend. Je früher wir die Erkenntnis, dass Wachstum und technologischer Fortschritt allein nicht für gerecht verteilten Wohlstand sorgen, auch in politisches Handeln umsetzen, desto mehr Schaden werden wir verhindern und desto schneller einem guten und würdevollen Leben für alle Menschen auf der Welt näher kommen. Dass dies nicht allen gefällt, wird nicht zuletzt durch die Rückzugsgefechte der Vertreter des alten, in sich selbst zusammenbrechenden Systems deutlich. Es wird also nicht ohne Konflikte gehen. Aber echten sozialen Fortschritt hat es in der Geschichte selten ohne diese gegeben. (Manuel Grebenjak, 16.7.2020)

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