Das Glück der Welterschließung durch mehrspurige Hochgeschwindigkeitsstraßen: Als Babyboomer lernte man auch ohne Fluggeräte die Welt kennen.

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Jetzt, wo die Mehrheit der Österreicher ihre Zehen in grün schimmerndes Gebirgswasser tunkt, wird vielen die unerschlossene Weite der Welt erst recht bemerkbar. Dabei ist die instinktive Scheu vor dem Flugverkehr kein Kind von Corona.

Meine Eltern, die vom Segen der goldglänzenden Kreisky-Ära milde profitierten, wären freiwillig in kein Flugzeug gestiegen. Zu unwahrscheinlich dünkte sie der Umstand, dass ein Ungetüm aus Stahl und Blech, ungelenk und schwer, nicht abstürzen sollte – zu gehaltlos, zu inhaltsleer erschien diesen braven Menschen der substanzlose, blaue Äther.

Da bedeutende Teile der Welt nunmehr unerreichbar geworden waren, musste das familiäre Urlaubskonzept auf neue Beine gestellt werden. Mein Vater, alleiniger Inhaber der familiären Fahrlizenz, beschloss Folgendes: Wenn Europa nicht zu uns, zum Beispiel ins schöne Salzkammergut, kommen möchte, so bereisen wir eben den Kontinent, als wäre er – von Wien aus gesehen – auch nicht weiter abgelegen als Strobl am Thörl oder Lunz im Gesäuse!

Gesagt, getan. Fortan brauste Papa mit unserem Ford Taunus – ein Muster an Gleichmut, kirschrot, lediglich brustschwach beim Überholen! – quer durch Europa. Die wilde Autobahnfahrt wurde lediglich durch unumgängliche Aufenthalte an diversen Raststätten unterbrochen. Nicht zu vergessen die unruhigen Übernachtungen in Familienpensionen, die notdürftig lärmgeschützt in der Nähe mächtiger Autobahnzubringer lagen.

Boomer mit Abenteuergeist

Ich, ein kleiner Babyboomer mit großem Abenteuergeist, sah Fernfahrer, die gleich hinter Clermont-Ferrand, mitten im französischen Zentralmassiv, völlig ungeniert riesige Haufen in den Schatten rachitisch dünner Pinien setzten (das Klo war dicht!). Ich sah südfranzösische Alte, die unter dichten Platanen unwirsch krächzten, mit den Stöcken im Kies scharrten und Papa, Mama und mich als "Boches" ("Hunnen") beschimpften.

Ich hörte den einen, einzigen Dudelsackbläser am nördlichsten Zipfel Schottlands; er setzte sich mit seinem Gelärme sogar gegen das ungehaltene Grollen der Nordsee durch. Er trotzte unerschütterlich und gänzlich ohne Unterwäsche den Fährnissen des auffrischenden Windes.

Und so erinnere ich mich noch gut des mäßig heißen Tages, als im Radio die Nachricht verlautet wurde, Elvis, der "King of Rock 'n' Roll" und seinerseits ebenfalls ein gelernter Fernfahrer, sei abrupt gestorben. Meine Mutter, die von sich behauptete, in einem früheren Leben ein englisches Schaf gewesen zu sein, saß am Rand einer britischen Straße. Die Lämmchen ringsum blökten, das Erikakraut schimmerte violett. Über Mamas Gesicht lief eine dicke, glänzende Träne. (Ronald Pohl, 15.7.2020)