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Der Wiener Börsenkrach 1873 war der Vorbote für die größte Krise des Jahrhunderts. Die Pleite eines Maklers brachte eine Immobilienblase zum Platzen. Doch zwischen Auslöser und Ursache einer Krise liegen oft Welten.

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In einer Serie schauen wir anlässlich der Corona-Pandemie auf große Wirtschaftskrisen zurück und prüfen, welche Lehren man daraus ziehen kann.


Börsenhändler täuschten Selbstmord vor, indem sie ihre alten Kleider an einer Brücke niederlegten und in neuen das Weite suchten. Das berichtete die Wiener Zeitung 1873 nach einem fulminanten Finanzcrash am österreichischen Aktienmarkt, der das Ende einer globalen Hochkonjunktur einläutete. Am berüchtigten Schwarzen Freitag am 9. Mai platzte eine Immobilienblase. Kurse brachen um bis zu 90 Prozent ein, noch am gleichen Tag gingen 120 Unternehmen pleite.

Etwas später im Jahr kollabierten die Märkte in Berlin und New York. Der Gründerboom endete im Gründercrash. Die sogenannte lange Depression bis zur Mitte der 1890er-Jahre war die schwerste Wirtschaftskrise des 19. Jahrhunderts. Wie konnte es so weit kommen? Und lassen sich knapp 150 Jahre danach noch Lehren daraus ziehen?

Nationalbank machtlos

Nach dem Wiener Börsenkrach versuchte die Nationalbank einzugreifen, war aber machtlos. Ein Muster, das sich in vielen Staaten wiederholen sollte. Bei einer Krisensitzung machte ein Vertreter darauf aufmerksam, dass man bereit sei, nach Kräften zu helfen, doch verfüge die Nationalbank nur über eine Reserve von 18 Millionen Gulden. Zur Einordnung: Allein die Creditanstalt hatte in den turbulenten Tagen vor dem großen Krach Aktienpakete im Wert von 20 Millionen Gulden auf den Markt geschmissen. Mit einem Notfallfonds der Großbanken wurden die Märkte letztlich beruhigt, auf niedrigem Niveau.

Ähnlich reagierten die New Yorker Banken, die ein gemeinsames Sicherheitsnetz knüpften. Am Ende dieses Prozesses wurde schließlich 1913 die Federal Reserve, die amerikanische Notenbank, etabliert. Eine großangelegte Konjunkturpolitik, wie man sie heute gewohnt ist, war damals weder Thema noch machbar.

Lange Deflation

Dass Spekulationsblasen irgendwann platzen, ist klar. Wirtschaftshistoriker warnen davor, einzelne Auslöser als Krisenursache zu bewerten. "Es gibt immer einen Dominostein, und wo der fällt, kann Zufall sein", sagt Werner Plumpe, Wirtschaftshistoriker an der Goethe-Universität in Frankfurt im STANDARD-Gespräch. "Da die Banken alle spekulativ verbunden sind, kann das schnell eine Kaskade auslösen."

Was folgte, war aber keineswegs eine wirtschaftliche Notlage, wie man sie später im 20. Jahrhundert erlebte, sondern eine lange Periode schwachen Wachstums und häufigerer, kleiner Einbrüche. Die zwei Jahrzehnte nach dem Crash waren von einer hartnäckigen Deflation geprägt: Die Preise brachen ein. Erst 1914 erreichten sie wieder das Niveau der Gründerjahre. Aus Sicht von Konsumenten, die Kutschen, Hüte oder Kohle zum Heizen kauften, wirken niedrige Preise wie ein Segen in harten Zeiten. Aus einer wirtschaftlichen Vogelperspektive fällt das Urteil anders aus. Deflation weist drauf hin, dass wenig nachgefragt wird: Unternehmen und Konsumenten gehen nicht auf Großeinkauf. Entweder, weil es ihnen selber schon schlecht geht und sie sparen müssen, oder weil sie Anschaffungen hinauszögern, bis sie noch günstiger werden. Deflation hemmt die wirtschaftliche Dynamik.

Rätsel um Deflation

Historiker haben geraume Zeit gerätselt, was diese lange Deflation auslöste. Zwei Erklärungen werden oft betont. Am Anfang des Booms standen immense Goldfunde in Kalifornien und Australien. Damals waren solche Entdeckungen der einzige Weg, die Geldmenge zu erhöhen. "Im Grunde hatten alle Staaten den GoldStandard. Da kann man nicht wie heute auf den Knopf drücken, und es wird mehr", erklärt Plumpe. Auch am Ende der langen Deflation stehen große Goldfunde in Südafrika und in Alaska. Solche Zufälle spielten damals eine Rolle, als Erklärung für den großen Boom und die lange Krisenzeit danach reichten sie aber nicht.

Schöpferische Kraft

Eine Erklärung für diese und andere Krisen entwickelte 1911 ein junger Ökonom an der Universität in Graz. Joseph Schumpeter erklärte sich die Auf- und Abwärtsdynamik der Wirtschaft mit der schöpferischen Kraft des Kapitalismus. Große Innovationen ziehen die ganze Wirtschaft mit, bis der Konkurrenzkampf die Gewinne wieder abschmilzt und Preise fallen. Mitunter lasse sich diese Dynamik in langen Wellen beobachten, wie es Schumpeter später beschrieb. Der Gründerboom war vom Ausbau der Eisenbahn sowie von der Kohle- und Stahlindustrie geprägt. Auch am Ende der langen Depression standen Innovationen: Die chemische Industrie entwickelte Kunstdünger, neue Textilien oder Medikamente und die Elektrotechnik revolutionierten die Energieerzeugung. Ab Mitte der 1890er ging es bergauf, auch Gewinne und Preise legten zu.

Vergleiche hinken

Mit der heutigen Wirtschaftskrise, eine Folge der Seuchenbekämpfung, lässt sich die lange Depression im 19. Jahrhundert kaum vergleichen. Doch gewisse Lehren hallen nach. So lange die Währungen an Gold gekettet waren, leisteten Zentralbanken nur Schützenhilfe für in Panik geratene Märkte. Staaten hatten zu wenig Einfluss auf die Wirtschaft, um großartig auf Krisen zu reagieren. Doch vor allem Deutschland zeigte vor, wie die öffentliche Hand, die Wirtschaft stärken konnte. Das staatlich geprägte Bildungswesen ermöglichte deutschen Unternehmen, von Fachkräften zu profitieren. Als die lange Depression endete, waren sie die größten Gewinner des Aufschwungs. Eine Lehre, die gut gealtert ist. Auch heute gilt, dass Gesellschaften mit hohem Ausbildungsniveau nach einer Krise, schneller Fuß fassen.

So wie Goldfunde und Erfindungen ist die Corona-Pandemie de facto zufällig in diesem Jahr aufgetreten. Krisen kommen oft unvermittelt. Wie eine Gesellschaft mit ihnen umgeht, ist sehr wohl planbar. Gegen die Krise der Zwischenkriegszeit war jedoch niemand gewappnet.

(Leopold Stefan, 15.7.2020)