Nicht erst seit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (im Bild einer der Angeklagten während eines Prozesstermins) gibt es Verdachtsmomente gegen die hessische Polizei.
Foto: EPA/Boris Roessler

Die Polizei, findet Idil Baydar, "hätte sich ruhig mal melden können". Aber: "Von der habe ich nichts gehört." Das macht die deutsche Kabarettistin, die häufig die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund thematisiert und gegen Rechtsextremismus kämpft, wütend. Erst aus der Presse hat die 45-Jährige erfahren, dass ihre persönlichen Daten unberechtigterweise von einem Computer eines hessischen Polizeireviers abgerufen worden sind.

Seit Monaten bekommt die Kabarettistin Drohbriefe von Rechtsextremisten, einer davon ist mit dem Kürzel "NSU 2.0" unterzeichnet – eine Anspielung an die rechtsextreme Terrororganisation "Nationalsozialistischer Untergrund" um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Im Namen des "NSU" wurden zwischen 2000 und 2007 neun Männer mit Migrationshintergrund und eine deutsche Polizistin ermordet.

Nicht die einzige Bedrohte

Baydar ist nicht die Einzige, der dies widerfuhr. Im August 2018 hatte die Frankfurter Anwältin Seda Besay-Yildiz ein erstes Drohschreiben per Fax erhalten. Es beginnt mit den Worten "Miese Türkensau!". Als "Vergeltung" dafür, dass sie im NSU-Prozess die Hinterbliebenen des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek vertreten habe, werde man ihre kleine Tochter "schlachten", wird der Anwältin gedroht. In dem Fax stehen der Name der Tochter und die private Adresse der Familie. Nie, sagt Besay-Yildiz, seien diese Daten irgendwo einzusehen gewesen.

Bei den Ermittlungen stellt sich heraus: Es hatte zuvor eine unberechtigte Datenabfrage in einem Polizeirevier in Frankfurt gegeben. Bei der Hausdurchsuchung bei der Beamtin stießen die Ermittler auf eine interne Chat-Gruppe, in der sich Beamte des Reviers gegenseitig rassistische und neonazistische Inhalte geschickt haben sollen. Von Hakenkreuzen ist die Rede, laut der Wochenzeitung "Zeit" habe ein Bild Hitler vor einem rauchenden Schornstein gezeigt, mit dem Text: "Umso größer der Jude, desto wärmer die Bude."

Mord an Regierungspräsident Lübcke

Im Juni 2019, kurz nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke – mutmaßlich durch einen Neonazi –, erreichte die Anwältin ein mittlerweile sechstes Drohschreiben. Ihr wird gedroht, dass ihr bald das Schicksal Lübckes widerfahren werde.

Idil Baydar, Kabarettistin, thematisiert oft die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund und kämpft gegen Rechtsextremismus.
Foto: imago/Klaus W. Schmidt

Die Ermittlungen werden ausgeweitet, fünf Personen aus dem Polizeidienst entlassen. Hessens Innenminister Peter Beuth erklärte damals, dass die Untersuchungen sehr kompliziert seien – und dass sich die Ermittler wohl "künftig noch mit weiteren Fällen befassen werden".

Damit hat er recht. Im Februar 2020 erhielt die hessische Linke-Politikerin Janine Wissler Drohungen, die wieder mit "NSU 2.0" unterzeichnet sind. Auch ihre Daten wurden zuvor in einem hessischen Polizeicomputer – diesmal in Wiesbaden – abgefragt. Drohschreiben ergingen auch an die Linke-Bundestagsabgeordnete Martina Renner und die Fraktionsvorsitzende der Linke in Berlin, Anne Helm.

Druck auf Innenminister Hessens

Innenminister Beuth gerät unter Druck. Er zeigt sich verärgert darüber, dass das Landeskriminalamt (LKA) ihn nicht früher über die Abfrage der Daten von Wissler informiert habe und auch nicht über die Vernehmung eines Polizisten in der Causa. Das LKA hingegen erklärt, es habe sehr wohl informiert – und zwar das Landespolizeipräsidium, das Beuth unterstellt ist. Dessen Chef Udo Münch ist nun zurückgetreten. Er habe um seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gebeten, sagte Beuth. Und auch, dass er damit die Verantwortung für Versäumnisse übernehme, "die er nicht alleine zu vertreten hat".

Beuth hat einen Sonderermittler eingesetzt und sagt: "Für mich geht es jetzt darum, dass die Ermittlungen in den einzelnen Drohsachverhalten mit aller Entschlossenheit geführt werden." Auch er schließt ein rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei nicht mehr aus und betont: "Ich erwarte von der hessischen Polizei, dass sie nichts unversucht lässt, diesen Verdacht zu entkräften."

Kritik kommt von SPD-Chefin Saskia Esken. Sie erklärt: "Für die Politik muss das ein Alarmzeichen sein, jetzt endlich konsequent zu handeln." Die Verdachtsfälle bei der hessischen Polizei müssten auch den politisch Verantwortlichen deutlich machen, "dass es sich hier nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt". (Birgit Baumann, 15.7.2020)