Ein Bewohner der Tavush-Region zeigt Einschusslöcher an seinem Zuhause, die in den Konflikten der letzten Tage entstanden sind.

Foto: AFP / Karen Minasyan

Eriwan/Baku – Erneute Gefechte an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien haben am Donnerstag Hoffnungen auf eine baldige Beruhigung des Konflikts zunichte gemacht. Nach einem Tag ohne Kämpfe warfen sich am Donnerstag die beiden verfeindeten Länder gegenseitig den Beschuss grenznaher Dörfer mit schweren Waffen vor.

Hintergrund der Kämpfe ist der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt um Nagorny-Karabach (Berg-Karabach), in dem auch die Regionalmächte Russland und Türkei eine Rolle spielen.

Die armenische Sicht

Die aserbaidschanische Armee beschieße seit dem frühen Morgen an der Grenze in der nördlichen Region Tawusch "armenische Dörfer mit Mörsergranaten und Haubitzen", erklärte die Sprecherin des Verteidigungsministeriums in Eriwan, Suschan Stepanian. Armenische Soldaten hätten daraufhin "den Panzer des Feindes zerstört und Artillerie-Stellungen, aus denen sie armenische Dörfer beschossen".

Nach Angaben des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinian gab es nur auf aserbaidschanischer Seite Tote und Verletzte. "Wir haben die Lage unter Kontrolle", versicherte er bei einer Kabinettssitzung.

Die aserbaidschanische Sicht

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium erklärte hingegen, die Kämpfe seien ausgebrochen, nachdem die Armenier "aserbaidschanische Dörfer mit großkalibrigen Waffen" beschossen hätten.

"Eine Artilleriegranate hat unseren Hof getroffen", sagte Shain Abiyev im aserbaidschanischen Dorf Dondar Guchtschu der Nachrichtenagentur AFP. Dabei seien Eingangstür, Dach und Fenster seines Hauses beschädigt worden. In Dörfern auf beiden Seiten sahen AFP-Reporterinnen offenbar in den vergangenen Tagen zerstörte Fensterscheiben und Dächer.

Am Sonntag waren die Grenzgefechte eskaliert. Dabei wurden elf aserbaidschanische Soldaten, darunter ein General, sowie ein Zivilist, getötet. Auf armenischer Seite gab es vier Todesopfer.

Am Mittwoch beruhigte sich die Lage allerdings zwischenzeitlich. Nachdem die USA, die EU und Russland die Konfliktparteien zur Zurückhaltung aufgerufen hatten, schwiegen die Waffen einen Tag lang. Die Türkei schlug sich auf die Seite von Aserbaidschan.

30-jähriger Konflikt zwischen Kaukasus-Ländern

Die beiden Kaukasus-Länder Armenien und Aserbaidschan befinden sich seit fast 30 Jahren in einem Konflikt um die Kontrolle über die Region Berg-Karabach. Das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Berg-Karabach war zu Sowjetzeiten Aserbaidschan zugeschlagen worden. Pro-armenische Rebellen brachten das Gebiet Ende der 80er Jahre unter ihre Kontrolle. 1991 rief Berg-Karabach seine Unabhängigkeit aus, die allerdings bis heute nicht international anerkannt wird.

Zuletzt hatte es im April 2016 heftige Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach gegeben. Dabei starben mehr als hundert Menschen. 2010 war die bisher letzte große Initiative für einen Frieden zwischen Eriwan und Baku gescheitert.

Festgefahrene Gespräche

Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev hatte vor ein paar Tagen kritisiert, die Gespräche zur Beilegung des Konflikts um Berg-Karabach seien festgefahren. In diesem Zusammenhang schloss er einen neuen militärischen Konflikt mit Armenien nicht aus. In der Nacht zum Mittwoch forderten in Aserbaidschans Hauptstadt Baku tausende Demonstranten eine Militäroffensive gegen Armenien.

Ausgebrochen waren die jüngsten Kämpfe jedoch nicht in der Region um Berg-Karabach, sondern in der nördlichen Grenzegion, die in Armenien Tawusch und in Aserbaidschan Towus genannt wird. Der genaue Auslöser ist unbekannt. Experten zufolge eskalierte die Lage womöglich nach einem kleineren Zwischenfall wie Schüssen über die Grenze.

Die Südkaukasus-Expertin Olesja Wartanjan von der International Crisis Group warnte im Gespräch mit AFP vor einer "hohen Wahrscheinlichkeit", dass bei einem direkten Angriff auf armenisches oder aserbaidschanisches Territorium "eine der Regionalmächte, insbesondere die Türkei oder Russland", interveniere. (APA/AFP, 16.7.2020)