Die Europäische Union hat seit der Einführung der Treffen auf höchster Ebene der Staats- und Regierungschefs schon viele verschiedene Formate und Varianten von Verhandlungen erlebt. Nach der tiefen weltweiten Krise durch den Ölpreisschock 1973 hatte das deutsch-französische Duo Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing die Durchführung regelmäßiger EU-Gipfel angeregt.

Mal traf man sich im ganz kleinen Kreis "am Kamin", um diskret die heikelsten Fragen und Blockaden zu lösen. Dann gab es etwa bei umfangreicher Agenda wie Vertragsänderungen oder bei Budgetentscheidungen auch Gipfel mit tausenden Teilnehmern – Delegationsmitarbeiter, Journalisten und EU-Beamte mitgezählt.

Große Angst

An diesem Wochenende werden die 27 Staatenlenker mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Ständigen Ratspräsidenten Charles Michel ganz neue Erfahrungen machen: Weil die Angst riesengroß ist, dass die gesamte politische Führung Europas mit dem Coronavirus angesteckt werden könnte, wenn auch nur ein Teilnehmer als "Superspreader" für Infektionen in den üblicherweise dicht gedrängten Räumlichkeiten der Ratsgebäude "Europa" und "Justus Lipsius" sorgt, wird die Zahl der Teilnehmer strikt limitiert.

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Die Angst ist groß, dass die gesamte politische Führung Europas mit dem Coronavirus angesteckt werden könnte. Im Bild (v.l.n.r): Belgiens Premierministerin Sophie Wilmès, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.
Foto: Stephanie Lecocq, Pool Photo via AP

Jeder Regierungschef darf nur ein halbes Dutzend Mitarbeiter mitbringen, die ihm bei den Beratungen über die komplexen Materien von EU-Budgetrahmen und Wiederaufbaufonds zur Seite stehen dürfen, die auf der Agenda stehen. "Wir werden unsere Experten und Rechner in der Ständigen Vertretung platzieren", heißt es aus vielen Botschaften. Journalisten und sonstige Beamte, die nicht zum allerengsten Kreis der Verhandler gehören, müssen draußen bleiben. Das gilt auch für einzelne EU-Kommissare.

Verlängerung bei Bedarf

Man wird über Internet und Videokonferenzen nach außen kommunizieren, hieß es Donnerstag in den Stäben von Präsident Michel, der den Vorsitz führt. Er strebt, wie berichtet, an, den Gipfel notfalls bis Sonntag zu verlängern, um doch noch einen Kompromiss zu erzwingen.

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Der frühere belgische Premier Charles Michel ist als Ständiger Ratspräsident seit Dezember 2019 zwar noch relativ neu – mit dem EU-Gipfel in Brüssel nimmt er aber bereits den dritten Anlauf zur Budgeteinigung.
Foto: AP Photo/Virginia Mayo

Ob das angesichts vieler gewichtiger strittiger Punkte in den Budgetplänen überhaupt ansatzweise gelingen kann, darüber wird viel spekuliert. Die Mehrheit der Staatenvertreter geht davon aus, dass am Samstag oder Sonntag kein "weißer Rauch" aufsteigen wird. Sollte es im Grundsatz einen Deal geben, aber einige Punkte offenbleiben, will der Ratspräsident bereits eine Woche später ein neuerliches Treffen in Brüssel einberufen. Es heißt, dass vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron extremen Druck machen, dass "diese Sache" spätestens Ende Juli bei den Regierungschefs vom Tisch ist.

Merkel muss dann als EU-Ratsvorsitzende in heikle Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament eintreten, das eigene Forderungen – viel mehr Geld für das reguläre EU-Budget – und die Bindung der Subventionsvergabe an die unbedingte Akzeptanz der Rechtsstaatlichkeit durch die Staaten knüpft.

Mit Elan in Beratungen

Kurz vor dem EU-Gipfel wollte Merkel sich in ihrer Einschätzung, ob es eine Einigung geben wird, nicht festlegen. Man gehe mit Elan in die Beratungen, aber die Unterschiede seien "sehr, sehr groß". "Es bedarf großer Kompromissbereitschaft aller", sagte die deutsche Kanzlerin. Michel forderte von den 27 EU-Staats- und Regierungschefs "politischen Mut", um eine Einigung zu finden. "Die ganze Welt beobachtet Europa" mahnte Kommissionspräsidentin von der Leyen, "ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und diese Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden."

Angela Merkel muss als EU-Ratsvorsitzende in heikle Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament eintreten.
Foto: APA/AFP/FRANCOIS LENOIR

Die Zeit zur Umsetzung ab 1. Jänner 2021 wird knapp, weil auch noch die nationalen Parlamente alles ratifizieren müssen. Ungarns Premier Viktor Orbán trat Donnerstag auf die Bremse, erklärte, er werde keine Bedingungen akzeptieren. Bei den "Sparsamen Vier" – darunter Österreich –, die den Wiederaufbaufonds kleiner machen und nur Kredite vergeben wollen, gilt der niederländische Premier Marc Rutte als härteste Nuss. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wollte noch vor Beginn des Gipfels am Freitag mit ihm zusammentreffen.

Tiefstapeln, die Erwartungen zurückschrauben, das gehört bei dieser Art von Entscheidungsgipfeln dazu, insbesondere, wenn es um viel Geld – insgesamt rund 1850 Milliarden Euro – geht, die in sieben Jahren bis 2027 an die Länder verteilt werden sollen. Die "Chefs und Chefinnen" haben jedenfalls Zweithemd und Ersatzbluse dabei. (Thomas Mayer aus Brüssel, 17.7.2020)