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Reto Hänny (73): immer wieder alles revidieren.

Foto: Picturedesk.com / Marko Lipus

Werkausgaben mancher Autoren und Erzählerinnen umspannen ein bis in der Regel zwei Dutzend Bände. Bei anderen ist die Werkliste noch länger und thematisch wildgefleckt.

Dann gibt es Schreiber, die energisch ein und dasselbe erzählerische Motiv umkreisen, immer wieder von neuem hin- und umwenden. Der Franzose und Literaturnobelpreisträger Claude Simon gehört zu dieser Fraktion, auch der Schweizer Gerhard Meier.

Dessen Landsmann Reto Hänny, inzwischen 73, ist hingegen einer, der ein und denselben Text immer von neuem sich vornimmt und entgegen jeder Ökonomie oder Marktgängigkeit Geschriebenes am liebsten löschen will, Gestrichenes und Verworfenes wieder hervorholt, einbaut, alles revidiert.

Im Jahr 1985 erschien Hännys Prosaband Flug. 2007, nach dreizehnjähriger Publikationspause, erschien Flug. Neue Fassung. Schon seinem Debüt Ruch aus dem Jahr 1979 – der Titel ist eine Umstellung des Namens der Stadt Chur – hatte der gebürtige Bündner fünf Jahre später eine Überarbeitung folgen lassen.

Um Reto Hänny war es zwischenzeitlich still geworden. Wie merkwürdig viele Schweizer Autoren fiel er dem Schweigen und Verstummen anheim, zumindest dem literarischen, und kam der Literatur wie den Verlagen abhanden. Andere, die sich den Status eines Verschollenen erschrieben, waren Jürg Laederach und Louis Jent, Franz Böni oder Renato P. Arlati. Die Luzerner Zeitung gönnte sich 2017 den bittergalligen Spaß, einen "Klub der vergessenen Autoren" auszurufen.

Schweigen und Erinnerung

Nun liegt mit Sturz. Das dritte Buch vom Flug Hännys dritter Anlauf vor, die dritte Umkreisung, eine Neufassung, umfangreicher denn je zuvor. Wagemutiger denn zuvor. Diese Übermalung, wie man Hännys Prinzip auch nennen kann, wählt neuerlich als dynamisches Zentrum des Textes eine Kindheitserinnerung: Ein Kind läuft um den Tisch im Wohnzimmer herum, hell und übermütig überzeugt, dass es zu fliegen vermag.

Dem Buben war ein Propeller geschenkt worden, was das Glücksgefühl intensiviert – bis der Großonkel, vom Lärm, den der Bub erzeugt, überstrapaziert, sich den Propeller schnappt und diesen zerbricht. Der kleine Kosmos der Kindheit, in dem alle Kerne bereits anwesend sind, die dunklen wie die hellen – Helldunkel hieß 1994 einst Hännys letzte, in hellgrauem Karton gebundene Veröffentlichung im Suhrkamp-Verlag –, hier ist er, in anspruchsvoller Darstellung, wieder da.

Hartnäckig will Hänny die Sprache zum Fliegen bringen, insgesamt drei Mal wird in Sturz geflogen, drei Mal gibt es die Sehnsucht, sich in die Lüfte zu erheben, fort von der Erde zu kommen. Und immer wieder gibt es Stürze, Sturzgeburten, Abstürze. "Die Arbeit", ermahnt der Vater den Sohn, findet "am Boden" statt, "nicht in den Wolken".

Altes neu und Neues alt

In Helldunkel hieß es an einer Stelle, Hännys Grundskepsis eines Altes neu und Neues alt umschreibenden Gedächtnisses wiedergebend: "Kann man sich an das dumpfe Grollen, das Beben unter den Füßen erinnern; oder kennt man all das nur aus Großvaters Geschichten? Spielt es eine Rolle? Man erinnert sich nicht, man schreibt das Gedächtnis um: Landstücke, (...), dann der ganze Hang, ins Gleiten, ins Schliefern geraten, langsam, kaum sichtbar erst, kaum ein Zittern in den Ästen, dann, schaut man einen Augenblick später hin, plötzlich rascher, beginnen sich aufzuwerfen, überzuwerfen, Erlen und Tannen, sich verkeilend, werden, Mikado-Stäbchen gleich, durcheinandergeworfen".

Die Kindheit im Bergdorf in Graubünden, die Jugendjahre in Chur, Zürich mit der hitzigen Jugendbewegung in den frühen 1980er-Jahren, massive Polizeieinsätze sowie die starke Auseinandersetzung mit Musik, Literatur und Kunst, all das bildet den Fundus, aus dem Hänny schöpft.

War die Neue Fassung von 2007 ein Kompendium des Streichens, Straffens, der die Sprache an der Wurzel fassenden Reduktion, so ist Das dritte Buch vom Flug nahezu das Gegenteil. Hier quillt alles über, geht manches aus dem Leim, ist nicht weniges von exquisiter Fragwürdigkeit.

Durchlöchert von Sternenlicht

Wie so viele träumt Hänny davon, nicht Hochseilsprachartist zu sein, sondern lieber Musiker und Maler. Der Matthes & Seitz-Verlag nahm sich Hännys vor einigen Jahren an. Mit Blooms Schatten schulterte der Bündner eines der größten Bücher der Weltliteratur, James Joyce’ Ulysses, und überführte diesen Roman in einen einzigen, sich über 140 Buchseiten schlängelnden Satz.

In Sturz nun lässt er partiell die Maßlosigkeit unbescheiden eskalieren, in tiefes Dunkel und atmosphärische Ratlosigkeit explodieren, für deren Erkundung es eines Kompasses bedarf – der Gestalter Felix Humm entwarf einen kongenialen Schutzumschlag: Name und Titel in Großbuchstaben scheinbar wahllos gewürfelt über einen nachtschwarzen Himmel, der durchlöchert ist von Sternenlichtern.

Angesichts neobiederer Ehrgeizbefreiung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist Reto Hännys Epos ein Staunen machender entfesselter Wildwurf, ein Großreiz. (Alexander Kluy, 18.7.2020)