Die Täler der Westschweiz sind recht verträumt und abgeschieden. Im Vallée de Joux beispielsweise fanden die Genfer Uhrenhändler schon seit dem 17. Jahrhundert genügend Handwerker, die bereit waren, nicht nur während der langen Wintermonate die feinsten Mechaniken einer Uhr zu erstellen und zu wahren Kunstwerken zusammenzufügen. Ausgerechnet in dieser Heidi-Wiesenlandschaft vor dem Jura hat das dänische Architekturbüro BIG rund um den marketingtalentierten Selfmadestar Bjarke Ingels, eine Art Enfant terrible der zeitgenössischen Baukunst, ein Besucherzentrum gebaut, in dem man dem Vergehen der Zeit Sekunde für Sekunde zuschauen kann.

Der große Name des Architekturbüros BIG, das zuletzt mit einem Müllverbrennungswerk am Kopenhagener Stadtteil Amager, auf dessen Dach eine öffentliche Skipiste errichtet wurde, für Furore sorgte, ist angesichts des Schweizer Projekts jedoch ein wenig irreführend. Immerhin geht es im Museum der Schweizer Uhrenmanufaktur Audemars Piguet um mikroskopisch kleine Teile.

In dem aufwendigen spiralförmigen Glaspavillon...
Foto: Iwan Baan

Neben dem Stammhaus aus dem Jahr 1875, der sogenannten Maison des Fondateurs, haben die Architekten einen aufwendigen spiralförmigen Glaspavillon entworfen. Entlang einer "Promenade architecturale" können Besucher nicht nur die Höhepunkte und Krisen der Schweizer Uhrenindustrie nachvollziehen, die angesichts der ostasiatischen Billigkonkurrenz den Markt hat einbrechen lassen, sondern auch Uhrmachern bei der Arbeit über die Schulter schauen und selbst einmal ausprobieren, wie es ist, unter der Lupe Schrauben im Zehntel-Millimeter-Format in eine Metallplatte zu schrauben.

Im Uhrzeigersinn

In der Haute Horlogerie wiederum geht es nicht nur um stets neue Gestaltungen und immer unnötiger werdende Funktionen einer Armbanduhr, sondern auch um eine nahezu religiöse Verehrung des Details. BIG hat riesige gekrümmte Glasscheiben verbauen lassen, die imstande sind, die vollständige Last des Daches zu tragen und in die Fundamente abzuleiten – eine Sensation im Tragwerkswesen. Damit sind die transparenten Innenräume komplett stützenfrei. Ein feines Streckmetallgitter aus schimmerndem Messing reguliert Licht und Temperatur im Haus.

...können Besucher unter anderem auch Uhrmachern bei der Arbeit über die Schulter schauen.
Foto: Audemars Piguet

Auch die Museographie ist absolut fehlerintolerant gestaltet: Entworfen vom Stuttgarter Atelier Brückner folgt der Pfad – im Uhrzeigersinn natürlich, was sonst – einer Phalanx von Preziosen-Kabinetten, um schließlich im Zentrum der Doppelspirale zu gipfeln, wo sich Besucher wie mittendrin in einem Uhrwerk fühlen. Selten haben Architektur und Ausstellungsgestaltung so perfekt harmoniert, selten haben die Zahnräder von Bauwerk und Szenografie so passgenau ineinandergegriffen wie hier.

Architecture parlante

Auf Rampen, die sanft abfallen, um dann gegenläufig wieder anzusteigen, entspinnt sich eine lineare Narration als Raumabfolge: Wie eine Architecture parlante setzt die Gestaltung darauf, das Schneckenhaus der Uhrenmanufaktur zum Erlebnis zu machen. Denn Fakt ist: Luxusuhren sind nicht nur teuer und technisch bis zum Maximum hochgezüchtet, sie ähneln einander auch so stark, dass man sie oft kaum noch voneinander unterscheiden kann. Um ihre Produkte zu differenzieren, entdecken die Uhrenhersteller daher mehr und mehr die Macht der Architektur. Wie zuvor schon in der Automobilindustrie soll der Besuch einer attraktiv gestalteten Werkstätte die Bindung zwischen Sehnsuchtsprodukt und potenziellem Kunden stärken. Das Savoir-faire muss dabei zugleich präsentiert und dennoch geheim gehalten werden.

Foto: Iwan Baan

Am Rande des kleinen Ortes Le Brassus im Kanton Waadt gelegen, haben die Architekten ihre Spirale mit Gründach "so perfekt in das Grundstück gefräst", wie BIG-Chef Bjarke Ingels dies bezeichnet, dass die kleingliedrige Uhrmacherkunst einem breiteren Publikum ästhetisch schmackhaft gemacht wird. Das Gebäude ist so sensibel in die Landschaft gebettet, wie auch die Ausstellungsgestaltung in die Architektur integriert ist. Die elegant fließenden Übergänge allerorts symbolisieren wohl am besten den Fortlauf der Zeit.

Audemars Piguet steht mit seinem Musée Atelier, wie das Museum genannt wird, nicht allein da. Auch andere Schweizer Uhrenhersteller setzen bei ihren Neubauten auf namhafte Architekten. So entwarf Shi geru Ban aus Tokio das neue Swatch-Zentrum in Biel, während der französisch-schweizerische Architekt Bernard Tschumi den Sitz von Vacheron Constantin bei Genf entwarf. Damit werden die Verwaltungsbauten und Produktionsstätten zunehmend zu Visitenkarten und Aus hängeschildern für einen in immer breitere Schichten vordringenden Kulturtourismus.

Die Idee, das konzentrierte Arbeiten im Mikromaßstab zur Touristenattraktion entlang der Grand Tour de Suisse aufzuwerten, treibt Audemars Piguet mit seinem Ende Juni eröffneten Zentrum jedoch auf die Spitze: Die Szenografie führt kurzweilig durch die Geschichte der Uruhren als Ausdruck ihrer Zeit – von der Belle Epoche bis ins 21. Jahrhundert. Entlang des Besucherparcours zum "mechanischen Herz" der Uhren, wie die Guides von Audemars Piguet das gerne in Worte fassen, werden en passant Schwungfeder, Hemmung und Unruh anschaulich erläutert. Bei der Präsentation der insgesamt 300 Uhren am Wegesrand dominieren Messing, gebleichte Esche und schwarzer Lack.

Foto: Audemars Piguet

Emotionale Erholung

Klimax des Rundgangs ist die Taschenuhr "Universelle", die in einer gläsernen Sphäre präsentiert wird. Mit 21 Komplikationen und 1168 Einzelteilen ist das 1899 gebaute Meisterwerk der komplexeste Zeitmesser, den Audemars Piguet je geschaffen hat. Der Rundgang endet mit der Präsentation der "Royal Oak Kollektion", die nicht zuletzt durch Arnold Schwarzeneggers Filme berühmt wurde, in fünf schwarz glänzenden, medial bespielten Glasquadern.

Neben dem Musée Atelier ist derzeit ein großes Hôtel des Horlogers in Bau, ebenfalls nach einem Entwurf des hippen Architekten aus Dänemark, in dem sich die Gäste in Zukunft für den Kauf ihrer hoch preisigen Uhr emotional vorbereiten oder nach deren Kauf noch emotionaler erholen können. Bis zur Eröffnung im Jahr 2021 vergeht nur noch wenig Zeit. (Ulf Meyer, 19.07.2020)