Der Schriftsteller-Vater der "Obstdiebin" und Literaturnobelpreisträger Peter Handke in seinem Garten.

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Der Titel von Handkes neuem Stück, Zdeněk Adamec, nennt den Namen des jungen Tschechen, der sich am 6. März 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannt hat. Die Form der Ausführung seines Selbstmordes erschien wie eine Wiederholung der Selbstverbrennung des Jan Palach im Jahr 1968, die als Fanal des Widerstands gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die sowjetischen Truppen weltweit bekannt wurde.

An jenem heroischen Narrativ gemessen, stieß der Jahrzehnte spätere Freitod des Zdeněk Adamec im jungen tschechischen Nationalstaat in den Medien und bei den politischen Repräsentanten auf Ablehnung.

Welt ohne euer falsches Licht

Der im Stück zitierte Kommentar von Radio Prag: "Das ist die Tat eines mehr oder weniger Verrückten. Nicht rational im Unterschied zu den Selbstverbrennungen Jan Palachs und Jan Zajic’ gegen die Sowjetpanzer. Zdeněk Adamec’ Tat hat nicht dieselbe Legitimation" – umso weniger, als er zu einer Gruppe von Computer-Hackern gehörte, den "Darkers" ("Die Verdunkeler"), die Teile des Stromnetzes unterbrachen und Städte oder Stadtteile von Prag in Dunkelheit versetzten.

Der andere geschichtliche Kontext des Suizids von Zdeněk Adamec am Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich an dem letzten schmalen Platz, einem Sims des Nationalmuseums, von dem aus er um acht Uhr früh brennend auf den Prager Wenzelsplatz hinuntersprang – "vier Meter unter ihm die Neonröhren von Sony, Olympus, McDonald’s, die eine Stunde nach Ende der Dämmerung noch immer leuchten", eine im Stück als Zitat aus einem "Weltblatt" nachgewiesene Textstelle.

Schon in der großen Erzählung Die Obstdiebin (2017) taucht im Gespräch der beiden Jugendlichen, von Valter und Alexia, die Frage einer anderen, umfassenderen Deutung des Suizids auf. "Was mich beschäftigt", sagt dort Valter, "ist, daß diejenigen Jungen, die heutzutage von selber gehen, mit ihrem Freitod etwas ausdrücken zur heutigen Zeit, sie derart bekämpfen, ihr abschwören, sie verfluchen, um sie, die jetzige Zeit, zuletzt doch zu verändern. Und insofern lebt unsereins, kommt mir vor, doch in einer speziellen Epoche?" Und dann erzählt er die Geschichte von Zdeněk Adamec, die sich wie eine Einführung in Handkes damals noch ungeschriebenes Stück liest.

Rettungsgeschichte

Größer dürfte der Anspruch, ein anderes, umfassenderes Bild eines Menschen zu retten, kaum jemals davor im Werk Peter Handkes gewesen sein – und dabei sind doch die meisten seiner Bücher als Rettungsgeschichten zu lesen. Verweist nicht schon der Titel von Wunschloses Unglück (1972), der Erzählung vom Leben und vom Freitod seiner Mutter, auf das Wünschen, das helfen könnte?

Doch wie sollte der grauenhafte Selbstmord des achtzehn Jahre jungen Zdeněk Adamec, der sich am 6. März 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz ,"mutterseelenallein" und in aller Öffentlichkeit verbrannt hat, als Rettungsgeschichte erzählt werden können?

Das Theater kann nicht ungeschehen machen, was unwiderruflich geschehen und mit dem Namen einer wirklichen Person verbunden ist. Doch kann es den Widerspruch von "mutterseelenallein" und "in aller Öffentlichkeit" zum Gegenstand des Nachdenkens machen, und es kann der medial kolportierten ideologischen Wahrheit vom Leben und Sterben eines jungen Menschen ein anderes Verstehen entgegenhalten und darin einen anderen, politischen Protest erkennen.

Die Idee des Festes

Dieses Verlangen treibt das abendliche, in die Nacht hinein geführte "Gespräch" der "Spielerinnen" und "Spieler" an. Unwillkürlich, mit einem Versprecher, der in ein utopisches Versprechen verwandelt wird, kommt sogar die Idee des Festes ins Spiel – "Aber jetzt: ja, doch, ein Fest!"

Es wird zur Evokation dessen, was uns lebendig hält und lebendig werden lässt und unausgesprochen der Erinnerung an den Toten gewidmet ist. Man könnte das nächtliche Gespräch in Handkes Stück als einen Nachruf ansehen, genauer: als ein vielstimmiges Nachrufen und Herbeirufen des jungen Zdeněk. Die Sprache kommt wild und ungeniert daher, streitbar, grob, vor allem aber getragen vom Wunsch, den Zdeněk zurückzurufen ins Leben, ihn wenigstens im gemeinsamen Erinnern und Wahrnehmen mitleben zu lassen.

Eine der zentralen Sprachgesten, die sich leitmotivisch durch den Text zieht, ist die direkte oder indirekte Aufforderung zum Schauen und Hören und Spüren – an ihn gerichtet und an uns. "‚Hat er denn keine Augen dafür? Augen auf, Zdeněk‘"!, "Schaut …", und "hört doch‚ "Siehst Du nicht …", es sind Einladungen zur Wahrnehmung der Welt und zur Entdeckung des Alltags, durch welche wir uns selber als "Erreichbare" erweisen. "Erreichbar sein" für die anderen, darin liegt für den Schriftsteller-Vater der Obstdiebin seine Ethik der Rettung: "Ich brenne seit je darauf, es zu schaffen, dass sie [die Leserinnen und Leser?] zu Erreichbaren würden – Aufhorchende – Offene – Antwortende (und sei es wortlos)."

Das Stück beginnt mit einer Beschreibung des Bühnenbilds, die eigentlich eine Erzählung des Ortes ist, des Gebäudes, in welchem die "Spielerinnen" und "Spieler" sich wie zufällig zusammengefunden haben. In ihr steckt die Idee von Handkes Schreiben: "Weiträumige Szene, mit Öffnungen nach allen Seiten"; "ein Austausch von stummen Zeichen. Ein öffentlicher Ort, eine für jedermann zugängliche Lokalität" – es könnte der Festsaal des Gasthauses von Humbolec sein, dem Heimatort von Zdeněk Adamec.

Das Bühnenbild als Poem

Neben Theodor Kramer ist Handke der Dichter der Wirtshäuser in vielerlei Gestalt, bei beiden gespickt mit den sozialen Utopiezeichen einer gastlichen Welt, von der niemand ausgeschlossen ist.

Mit unscheinbaren Wendungen wie dem wiederholten "oder wo", das an den paradigmatischen "Nicht-Ort", Utopia, denken lässt, später ist von "Böhmen" am Meer die Rede, ersteht, wie verborgen auch immer, im Bühnentext eine gegenläufige Antwort auf die verzweifelte Frage: "Ja, hört denn dieses Schinden und Geschundenwerden nimmer auf?"

Die vielen geträumten und erlebten Orte, an welche erinnert wird (ein letztes Mal noch, wenn Zdeněk Adamec der Klosettfrau in der Toilette des Busbahnhofs seine Erinnerungen an den unvergesslichen Schlittenhügel seiner Kindheit erzählt), alle diese erlebten lichten Orte, die Erinnerungen und Träume, besonders der "Zauber" der verborgenen Lichtung im Wald, sie haben ihren Gegenpol in der finsteren Folterkammer eines mittelalterlichen Gebäudes, wo der Autor bei seinen Recherchen den Namen Zdeněk Adamec in das Torturgerät einer Streckbank eingraviert fand.

Ins Leben zurückrufen

Handkes Stück ist auch insofern eine Rettungsgeschichte, als es den Wunsch des jungen Mannes erfüllt, der in seinem – nicht fiktionalen – Abschiedsbrief schrieb: "Bitte, haltet mich nicht für einen Narren."

Es will dem selbstruinösen Widerstand von Zdeněk Adamec gerecht werden und ihm ein Andenken bewahren, nicht mit einem starren Denkmal, sondern mit der Sprache der "Spielerinnen" und "Spieler": dem bewegten Fragen und Weiterfragen, Einander-Zuhören und Einander-ins-Wort-Fallen, den ständig wechselnden Rhythmen und Tonfällen, vom Psalm als Hilfeschrei bis zum brutalen Kalauer.

Es wird kein Urteil über das verzweifelte Menschenwesen gefällt, das aufgeregte Reden und Gestikulieren wendet sich dem Zdeněk an manchen Stellen auf eine Weise zu, als wäre er mitten unter ihnen und noch zu retten: "Was zeichnest du da in die Luft?" / "Einen Fluchtweg?" / / "Und?" // "Und" / / "Und?" / / "zeichne weiter, kleiner Träumer, zeichne weiter."

Was für ein selten schöner lakonischer Schluss dann, gesprochen von dem "Spieler", der dem Autor am nächsten zu stehen scheint: "Ich wollte noch was sagen." Darauf die knappe Antwort eines andern: "Sag’s!" Und der letzte Satz des Stücks: "Jetzt weiß ich’s nicht mehr. Plötzlich weiß ich nicht mehr." Es schließt mit der Regieanweisung: "Musik. Großes Orchester. Bloßes / Einstimmen, anschwellend." (Hans Höller, 18.7.2020)