Joana Mallwitz dirigiert im Sommer die "Così"-Premiere der alzburger Festspiel.

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Mirga Gražinytė-Tyla reüssiert mit dem international renommierten City of Birmingham Symphony Orchestra.

Vern Evans

Attilia Kiyoko Cernitori studiert in Wien.

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Oksana Lyniv verließ die Grazer Oper Richtung Freiheit.

Plankenauer

Maestra Simone Young verschont man besser mit dem Thema "dirigierende Frauen". Szenebekannt ist, dass die einstige Opernchefin Hamburgs als Pionierin unter den Orchesterleiterinnen hierzu eine Allergie entwickelt hat. Joana Mallwitz könnte ebenfalls gut damit leben, verschwände das "Thema bald. Es spielt jedenfalls beim Musizieren und Proben keine Rolle", so die Dirigentin des Jahres. Wie das Gespräch Richtung Interpretation abbiegt, blüht sie denn auch auf: "Bis zum erste Ton weißt du nicht, wie es wird! Wichtig ist die eigene Durchlässigkeit, um Pläne notfalls zu ändern. Man kann nur versuchen, frei zu musizieren."

In einer Extremsituation

Mallwitz, die heuer in Salzburg Così fan tutte leitet, hat ihre Spontaneität als Einspringerin früh erprobt. "Ich war mit 19 gerade erst ans Theater gekommen. Als Korrepetitorin war ich zwar bei Proben zu Madame Butterfly dabei, habe das Stück rauf- und runtergespielt, aber eben nie dirigiert." Es habe in Heidelberg dann "nur noch vier Stunden bis zu dieser Butterfly-Aufführung" gegeben. "Aber wenn man Ja sagt, gibt es kein Zurück. Es war dann eine gute Erfahrung zu sehen, wozu Körper und Kopf in einer Extremsituation fähig sind." Man konnte sich nicht "überlegen, was man tun soll, wenn eine Stelle nicht klappt. Es musste klappen! Ich habe an die Aufführung kaum Erinnerungen. Von dem Augenblick an, da ich den ersten Einsatz gab, weiß ich eigentlich nichts mehr ..."

Eine Selbstverständlichkeit eigentlich, dass es Mallwitz, Nürnbergs Generalmusikdirektorin, nach so intensiven Erfahrungen und mittlerweile "14 Jahren in diesem Job" keinesfalls für eine Mode hält, dass immer mehr Dirigentinnen Leitungsfunktionen übernehmen. "Ich habe noch nicht erlebt, dass eine Kollegin geholt wurde, weil es Mode ist."

Es tut sich was

Tatsächlich scheint ein Bewusstseinswandel stattzufinden, scheint die Entwicklung nachhaltig Richtung Selbstverständlichkeit zu tendieren: Unvorstellbar, dass ein Dirigierlehrer heutzutage – wie einst zu Legende Hans Swarowsky kolportiert – Studentinnen zurück in die Küche wünscht. Auch Theorien eines Dirigenten wie Jorma Panula muten an wie Flaschenpost aus der Ursuppe der Ressentiments: Der Lehrer von Dirigentin Susanna Mälkki behauptete noch 2014 öffentlich, Frauen könnten keine männliche Musik dirigieren – für ihn waren Bruckner und Strawinsky männlich –, nur "weibliche", die er bei Debussy entdeckt hatte.

Einer geht noch: Vom russischen Dirigenten Vasily Petrenko ist die Hypothese überliefert, Männer seien die besseren Orchesterdompteure, da sie ihre Musiker nicht durch sexuelle Reize ablenken. Frauen täten dies aber. Solch Gedankengut ruht wohl längst auf dem Friedhof der wirren Klischees oder traut sich nicht aus Stammtischköpfen raus – ans Licht der Öffentlichkeit.

Heben des Schleiers

Eine Vorreiterin, die von Leonard Bernstein geförderte Marin Alsop, Chefin des RSO-Wien, vergleicht die positive Entwicklung im Dirigentinnenbereich mit dem Fall der Berliner Mauer. Attilia Kiyoko Cernitori, Dirigierstudentin an der Wiener Musikuni, spricht parallel vom "Heben des Schleiers. Die Gesellschaft hat erkannt, dass es Dirigentinnen gibt und sie ihren Job machen können. Sie sind plötzlich sichtbar, dürfen existieren. Das Musikestablishment musste sich also anpassen."

Es tut sich also etwas: Mirga Gražinytė-Tyla, einst Musikchefin am Salzburger Landestheater, ist erfolgreiche Nachfolgerin von Andris Nelsons beim City of Birmingham Orchestra und exklusiv an die Deutsche Grammophon gebunden. Die Mexikanerin Alondra de la Parra wirkt als Chefin des Queensland Symphony Orchestra, und die Finnin Susanna Mälkki ist respektierte Spezialistin für die Moderne. Die Französin Ariane Matiakh wiederum ist Generalmusikdirektorin der Oper in Halle, die Russin Anna Skryleva umsorgt die Oper Magdeburg.

Etablierte Damen

Zu den etablierten Damen zählt auch Julia Jones; international gefragt ist auch die Italienerin Speranza Scappucci, die einst an der Wiener Staatsoper Korrepetitorin war. Schließlich hat sich das Opernhaus Graz von seiner Musikchefin Oksana Lyniv verabschieden müssen.

Wobei: Auch die Ukrainerin Lyniv hat auf ihrem Weg Richtung Leitungsfunktion nicht nur Nettes erlebt, vor allem "in meiner Studienzeit. Frauen, die sich diesen Beruf ausgesucht hatten, wurden vielleicht eher misstrauisch angeschaut." Studentin Cernitori bezeugt, dass heute noch Ähnliches passiert. "Ich machte unlängst die Erfahrung mit einem Dirigenten: Er sagte, ich hätte keine Chance, Chefdirigentin eines Orchesters zu werden, da ich eine Frau bin. Manchmal ist es auch die nonverbale Sprache oder die Haltung von Männern oder Frauen, die diese Double Standards offenbart."

Ein Traumberuf

Nebst solchen Nadelstichen ist das von außen insinuierte Rollenbild ein zentrales Hindernis, sich den Dirigierberuf überhaupt vorstellen zu können. "Ich bin in Italien aufgewachsen, wo die Machokultur immer noch verbreitet ist", so Cernitori. "Dirigieren war mein Traum, seit ich zehn war. Meine Mutter meinte, ich könnte das nicht, da ich eine Frau bin. Damals gab es für mich keine Vorbilder, also musste ich meinen Traum unterdrücken, Cellistin werden. Als ich jedoch für mein Studium an die Musikuni Wien kam, sah ich Marin Alsop ,zufälligerweise‘ im Musikverein dirigieren – ich wusste gar nicht, dass Marin ein weiblicher Name ist! Frauen können also doch dirigieren! Ich begriff, dass dies mein Weg ist." Vorbilder und "die Aufmerksamkeit, die Dirigentinnen endlich erlangen", seien eben deshalb wichtig "für die nächste Generation. Mädchen sollten glauben, dass sie alles sein können, was sie wollen!", so Cernitori.

Zur Geschichte

Wären Rolemodels alles, wäre das Problem allerdings längst gelöst. Die Italienerin Francesca Caccini war im Frühbarock etwa nicht nur die erste Frau, die eine Oper schrieb. Es heißt, sie habe am Hof der Medici auch Aufführungen vom Cembalo aus geleitet. Und Pädagogiklegende Nadia Boulanger dirigierte 1938 als erste Frau das Boston Symphony Orchestra. Solch folgenlose Einzelbeispiele gibt es zuhauf.

Die Rektorin der Wiener Musikuniversität, Ulrike Sych, sieht das Problemfeld denn auch viel umfassender: "Wir sind meines Erachtens noch weit davon entfernt, dass dirigierende Frauen selbstverständlich sind. Unsere Beobachtung an der MDW ist, dass vielmehr hervorragende Dirigierstudentinnen nach dem Studium auf ihrem Karriereweg eher ,beruflich verlorengehen‘ als ihre männlichen Kollegen."

Die Zahlen: Im Fach Dirigieren hatten weibliche Studierende 2001 einen Anteil von 17,8 Prozent, im Studienjahr 2018/19 waren es 18,3 Prozent. "Das ist eine geringe Steigerung. Wir entwickeln derzeit im Rahmen unserer Diversitätsstrategie Maßnahmen, die mehr Frauen zu diesem Studium bringen sollen. In diesem Zusammenhang freut mich das Ergebnis der jüngsten Zulassungsprüfung: Es wurden fünf weibliche und fünf männliche Studierende aufgenommen."

Erstmals 50 Prozent

So würde es im nächsten Studienjahr erstmals in der Geschichte der Uni beim Dirigieren einen Jahrgang mit 50 Prozent Frauen geben. Damit Dirigentinnen ihre Karrieren nicht aufgeben, "sondern unbeirrt dabeibleiben, ist es auch unabdingbar, dass sie während des Studiums lernen, Konfliktstrategien zu entwickeln. Wir sind bemüht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Selbstvertrauen unserer Studierenden stärken, sowie sie darin zu unterstützen, authentisch zu bleiben."

Man bringe daher Studentinnen auch mit Rolemodels in Kontakt, die ihnen "bei Mentorings zeigen, dass für Frauen auch in Männerdomänen ein erfolgreicher Karriereweg möglich ist", so Sych, die Pionierin Marin Alsop meint.

Als erste Frau unterrichtet sie im Fach Orchesterdirigieren. Attilia Cernitori in Sychs Sinne: "Ich sehe Dirigieren als Spiegel der Gesellschaft. Es ist eine Machtposition, vergleichbar mit der eines CEO. Wir haben die gleichen Probleme wie Frauen in anderen Bereichen. Wenn die Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft erreicht wird, ist dies das Ende der Diskussion, weil wir sie nicht mehr brauchen werden." Bis dieser Idealzustand erreicht ist, sind zielgerichtete Fragen und Artikel wie dieser womöglich aber nicht völlig sinnlos. Auch die Australierin Simone Young würde dem wohl zustimmen. (Ljubisa Tosic, 19.7.2020)