Im Gastkommentar spricht sich die Chefin des Momentum-Instituts Barbara Blaha für einen "change by design", nicht "by disaster" aus.

Zwei Krisen bestimmen unseren Alltag und die gesellschaftliche Diskussion: Corona-Pandemie und Klimawandel. Die Maßnahmen gegen beides sind so notwendig wie umstritten. Können wir uns das alles leisten? Wer genau hinschaut, entdeckt parallele Argumentationsmuster.

Auf einem toten Planeten kann es keine florierende Wirtschaft geben und in einer Pandemie kein Wachstum. Eigentlich logisch.
Foto: Imago/Müller-Stauffenberg

Etwa im Gastkommentar von Sebastian Kurz im "Time Magazine": Während er verneint, "dass wir eine Entscheidung zwischen der Sicherung der Wirtschaft und der Umwelt treffen müssten", macht er letztlich genau das. Schließlich würde man keine Fortschritte machen, indem man "plötzlich" den Status quo ändere. Vordergründig nimmt man Klimaschutz ernst, stellt sich letztlich aber auf die Seite der Beschwichtiger. Änderungen ja, aber langfristig, bis 2040. Nicht, wenn es unser System ändert. Nicht, wenn es zu mehr Zentralismus führt.

"Sozialistischer Zentralstaat"

Wer Jahrzehnte nach Bekanntwerden des Klimawandels von begrüßenswerten "ersten Schritten" schreibt, hat die Dramatik des Problems nicht im Ansatz verstanden – oder will sie nicht verstehen. Da erinnert Kurz’ Kommentar, wie auch das Start-up-Medium Brutkasten kommentierte, an die Argumente der Ölindustrie. Ein bisschen CO2-Abscheidung (also CO2 weiter produzieren, aber irgendwo im Boden vergraben: das Lieblingsmodell jener, die nichts, aber auch gar nichts ändern möchten). Eine Prise Innovation. "Vielversprechende Technologien". Aber keine Verbote. Überhaupt fürchtet sich Kurz (von allen Dingen, vor denen man sich fürchten kann!) vor einem "sozialistischen Zentralstaat im grünen Mäntelchen".

Dabei hat die Universität Oxford vor kurzem herausgefunden: Grüne Konjunkturpakete sind nicht nur gut für das Klima, sondern auch für die Wirtschaft am sinnvollsten. Österreichische Forscher haben berechnet, dass die Kosten für Klimawandelfolgen, darunter Wetterextreme oder Missernten, schon heute zwischen drei und 15 Milliarden Euro liegen. Das ist mehr, als im Budget für Klimaschutz vorgesehen ist.

Der Leistungsgedanke

Bekommen wir den Klimawandel nicht in den Griff, hat das schwerste Konsequenzen für unsere Zivilisation. Auf einem toten Planeten wird auch die Wirtschaft nicht florieren. Trotzdem wünscht sich die Industrie weiterhin möglichst viele Flugverbindungen, statt sich für den Bahnausbau einzusetzen, und "schnellere", also einfacher abzuschließende Umweltverhandlungen. Was kümmert uns schließlich die langfristige Sorge, wenn es kurzfristig lohnt, weiterzumachen wie bisher.

Ähnliches lässt sich beim Thema Corona feststellen. Wieso müssen wir uns Seuchenbekämpfung "leisten können"? Können wir uns Anti-Corona-Maßnahmen leisten? Das ist dieser Tage oft die primäre Frage. Der Tenor lautet: Einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten. Ohne sich einen ebensolchen zu wünschen, stellt sich doch die Frage: Wieso diskutieren wir das zuallererst wirtschaftlich? Nicht sozial, nicht psychologisch?

Opfer für Land und Wirtschaft

Besonders spitz wird die Diskussion in den USA geführt. Der texanische Vizegouverneur erklärte vor einigen Wochen offen, er sei durchaus bereit, sich für Land und Wirtschaft zu opfern. Schließlich gebe es Dinge, die wichtiger sind als das eigene Leben. Besser höhere Risiken in Kauf nehmen, als der Wirtschaft zu schaden.

Die Ablehnung von Seuchenschutz aus wirtschaftlichen Gründen ist Unsinn, weil die Alternative eine ungebremst wuchernde Pandemie ist. Das würde im US-Beispiel bedeuten, dass Millionen Menschen sterben, weitere Millionen intensivmedizinische Versorgung brauchen (die es dann nicht gibt) und Millionen schwere Dauerfolgen tragen müssen. Dass in jeder Familie schwere Krankheitsfälle, Todesopfer zu beklagen sind. Kann sich in einem solchen, monate- bis jahrelang andauernden Szenario irgendjemand Wirtschaftswachstum vorstellen? Konsumfreude von Menschen, deren Angehörige bestenfalls im Krankenhaus, schlimmstenfalls auf dem Friedhof sind? Wie sollen Menschen einkaufen, Dienstleistungen konsumieren, die gerechtfertigterweise Sorge um ihre Gesundheit und ihr Leben haben müssen? Und es geht auch um die Produktion: Wer macht die Arbeit in so einem Szenario? Schon im vergleichsweise verwöhnten Österreich wurde Arbeitskraft in Supermarktlagern und Logistikzentralen knapp.

Verklärtes Nichtstun

Was bedeutet das alles? Einen Widerspruch zwischen "Leben" und "Wirtschaft" gibt es nicht. Ein verklärtes Nichtstun bei Klima- oder Seuchenschutz nützt der Wirtschaft nicht. Warum wird es dann gefordert und so erklärt? Weil wir uns daran gewöhnt haben, dass "die Wirtschaft" eben nicht die Gesamtheit von Unternehmerinnen, Unternehmern, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, die die Güter und Dienstleistungen produzieren, die wir als Gesellschaft benötigen. Sondern dass "wirtschaftliche Notwendigkeit" ein Code geworden ist, mit dem kurzfristige Profitinteressen von (vor allem großen) Unternehmen und Vermögenden mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.

Was es dagegen braucht, ist ein geplanter, demokratisch gestalteter Transformationsprozess, der alle mitnimmt und nicht nur eine Komfortzone für das oberste Prozent schafft. Kein "change by disaster", sondern ein "change by design", wie der Schriftsteller und Politikwissenschafter Raul Zelik schreibt. Also eine Veränderung, die nicht vor der politischen Macht der großen Vermögen einknickt. (Barbara Blaha, 20.7.2020)