Die Affäre um rechtsextreme Drohschreiben umfasst auch die deutsche Polizei.

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Berlin – In Deutschland sind erneut rechtsextreme Drohschreiben mit dem Absender "NSU 2.0" an Politiker und bekannte Persönlichkeiten verschickt worden. Am Freitag seien mindestens zwei E-Mails mit identischem Inhalt an insgesamt 15 Adressaten geschickt worden, darunter auch erstmals an den Journalisten Deniz Yücel, berichtete die "Welt am Sonntag". Der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), Frank Überall, sprach von "widerlichen Versuchen der Einschüchterung".

Zu den Empfängern der jüngsten Drohschreiben gehören dem Bericht zufolge der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU), die Linksfraktionschefin im hessischen Landtag, Janine Wissler, sowie die Kabarettistin Idil Baydar. Beide Frauen hatten in den vergangenen Monaten bereits mehrmals rechtsextremistische Morddrohungen des "NSU 2.0" erhalten.

Auch weitere Politikerinnen und andere Frauen des öffentlichen Lebens waren betroffen. Ihre nicht-öffentlichen Daten sollen zuvor von Polizeicomputern in Frankfurt und Wiesbaden abgerufen worden sein.

Yücel erfuhr erst durch Kollegen von der Drohung

In dem neuen Schreiben werden laut "Welt am Sonntag" sowohl der "Welt"-Korrespondent Yücel als auch eine Journalistin der "taz" beleidigt und bedroht. Yücel bezeichnete es als "verstörend", dass er erst durch die Recherchen seiner Kollegen von dem Drohschreiben erfahren habe. Die Polizei habe sich bisher nicht mit ihm in Verbindung gesetzt.

Ein Sprecher des hessischen Innenministeriums sagte der "Welt am Sonntag", man habe Kenntnis von dem neuen Drohschreiben. Im Text erwähnte Personen sollten eigentlich darüber informiert werden, sagte er.

Nach einem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" sollen im vergangenen Jahr auch eine Berliner Kolumnistin sowie eine Strafverteidigerin aus München Ziele der Drohbriefe gewesen sein. Beide seien von der hessischen Polizei informiert worden, dass entsprechende Schreiben an sie abgefangen worden seien. Beide Frauen wollten zu ihrem Schutz anonym bleiben.

Whistleblowing-System gefordert

Wegen der Affäre um die rechtsextremen Drohschreiben war der hessische Landespolizeipräsident Udo Münch am Dienstag zurückgetreten. Hessens Innenminister Beuth setzte einen Sonderermittler zu den Drohmails an.

Der Vorsitzende des hessischen Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Dirk Peglow, forderte in der "Welt" zur Aufklärung der Affäre ein Whistleblowing-System innerhalb der Sicherheitsbehörden sowie die Berufung eines Landespolizeibeauftragten, der ähnlich wie die Wehrbeauftragte für die Bundeswehr agieren sollte.

Schwerwiegende Ermittlungsfehler beim NSU

Die Drohschreiben orientieren sich offenkundig an dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), einer im Jahr 2011 aufgeflogenen Neonazi-Zelle. Uwe Mundlows und Uwe Böhnhardt hatten neun Morde an Gewerbetreibenden türkischer und griechischer Herkunft sowie einer Polizistin begangen. Sie begingen Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle.

Die deutschen Sicherheitsbehörden waren nach Auffliegen der Terrorzelle mit dem Vorwurf konfrontiert, bei den Taten nicht energisch genug ermittelt zu haben. Die Verbrechen waren vielfach unbekannten Tätern aus den migrantischen Communitys zugeschrieben worden. Dass Rechtsextreme mit rassistischen Motiven handelten, wurde oft erst Jahre später aufgeklärt. (APA, AFP, 19.7.2020)