Ein Stoff für die Leinwand: Der deutsche Filmproduzent Nico Hofmann will den Skandal um den Zahlungsdienstleister verfilmen. Er sieht darin ein "Drama unter Königen".

Foto: AFP / Christof Stache

Der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek hat sich nach Informationen des "Handelsblatts" nach Russland abgesetzt. Der seit Wochen untergetauchte Manager sei auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU untergebracht, erfuhr das "Handelsblatt" aus Unternehmer-, Justiz- und Diplomatenkreisen laut Vorabmeldung von Sonntag. Bereits am Samstag berichtete der "Spiegel", dass Marsalek noch am Tag seiner Freistellung ins weißrussische Minsk geflogen war. Wegen des politischen Konflikts zwischen der russischen Führung und Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko war es dem GRU aber wohl zu riskant, Marsalek im Nachbarland zu belassen. Deshalb schaffte man ihn weiter nach Russland.

Zuvor habe Marsalek erhebliche Summen in Form von Bitcoins aus Dubai, wo Wirecard dubiose Operationen betrieben hatte, nach Russland geschafft. Wirecard hatte im Juni mutmaßliche Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Wenige Tage später meldete der Dax-Konzern Insolvenz an.

Im Kreml weiß man davon nichts. "Nein, es ist nichts bekannt", sagte Sprecher Dmitri Peskow am Montag zu dem Bericht des "Handelsblatts". Die Nachrichtenagentur Interfax meldete, Marsalek werde von den russischen Behörden nicht verfolgt. Demnach gibt es weder ein Strafverfahren gegen den Manager in Russland noch eine Auslieferungsanfrage. Russland habe auch keine Erkenntnisse über seinen Aufenthaltsort.

Ausführender Direktor bei russischer Tochterfirma

Interessant scheint, dass Marsalek laut der tagesaktuellen Datenbank der russischen Steuerbehörden seit April 2019 und bis zum heutigen Tag als ausführender Direktor der im September 2018 gegründeten OOO Wajerkard in Moskau fungiert, die ihrerseits eine Tochterfirma der Wirecard Sales International Holding GmbH und der Wirecard AG ist. Nach Angaben der Geschäftsdatenbank Dun & Bradstreet Firmenprofile wies diese Moskauer Firma 2018 einen Jahresumsatz von 550.000 Euro und Verluste in der Höhe von knapp 42.000 Euro auf.

Gegenüber der APA wollte man am Montag bei OOO Wajerkard trotz dieser offiziellen Angaben eine aufrechte Tätigkeit des flüchtigen Ex-Managers nicht bestätigen. "Wir haben keine Beziehung zu Jan Marsalek, er ist nicht Mitarbeiter der Firma", sagte die laut Steuerbehördendatenbank als Generaldirektorin agierende Polina Dobrijan in einem Telefonat.

Politische Debatte in Deutschland

Für den finanzpolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Florian Toncar, ist indes klar: "Was als Bilanzskandal begann, ist im Herzen der Bundesregierung angekommen." Er mahnt: Wenn die Regierung nicht "reinen Tisch" mache, "dann stolpert sie einem Untersuchungsausschuss immer näher".

Die FDP ist nicht die einzige Oppositionspartei, die an den deutschen Finanzminister Olaf Scholz (SPD), aber auch an das Bundeskanzleramt einige drängende Fragen im Zusammenhang mit dem Bilanzloch von 1,9 Milliarden Euro und der Pleite des Dax-Konzerns Wirecard hat. Auch Grüne und Linke haben bei der Rekonstruktion des beispiellosen Absturzes des Zahlungsdienstleisters die deutsche Politik im Blick.

Kanzlerkandidat

Ihr Interesse gilt zunächst Scholz, dessen Beliebtheitswerte dank seines Corona-Krisenmanagements in letzter Zeit recht hoch waren. Und der deswegen als Kanzlerkandidat der deutschen Sozialdemokraten im Wahljahr 2021 gilt. Scholz wurde am 19. Februar 2019 darüber unterrichtet, dass die ihm unterstellte Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) in der Causa Wirecard "in alle Richtungen wegen Marktmanipulation ermittelt, das heißt sowohl gegen Verantwortliche der Wirecard AG als auch gegen Personen, bei denen Hinweise zur Beteiligung an Marktmanipulationen vorliegen".

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) ist im Wirecard-Skandal unter Druck geraten.
Foto: Imago / Thomas Trutschel

So steht es in einem Sachstandsbericht des Finanzministeriums an den Finanzausschuss des Bundestags. Für die Opposition hat die Kontrolle versagt, sie findet, Scholz hätte die Angelegenheit damals an sich ziehen müssen.

Außerdem beklagt sie, dass die Bafin zwar angeblich seit Februar 2019 ermittelt habe, es aber zugelassen habe, dass sich die Bilanzprüfung bei der Wirecard AG über mehr als ein Jahr hinzog. "Die Schlamperei bei der Kontrolle milliardenschwerer Firmen ist einfach unfassbar", kritisiert Linksparteichef Bernd Riexinger. Scholz muss sich zudem vorwerfen lassen, auch jetzt an Aufklärung nicht wirklich interessiert zu sein. Dabei geht es um zwei Gespräche, die Jörg Kukies, Staatssekretär im Finanzministerium, im Herbst 2019 mit dem mittlerweile zurückgetretenen Wirecard-Chef Markus Braun geführt hat.

"Geheimschutzinteressen"

Es gibt darüber kein Protokoll. In einer Antwort auf eine Anfrage von Grünen und Linken berief sich das Finanzministerium zunächst auf "Geheimschutzinteressen". Dann teilte es im Sachstandsbericht mit, dass es um "eine Vielzahl von Themen" gegangen sei, darunter um die damals schon bekannten Vorwürfe der Marktmanipulation bei Wirecard.

Auch den Koalitionspartner macht diese Geheimniskrämerei mittlerweile sauer. "Die Zurückhaltung von Informationen und das Hinhalten des Parlaments sind nicht länger hinnehmbar und müssen ein Ende haben", sagt der Unions-Obmann im Finanzausschuss, Hans Michelbach (CSU).

Scholz verteidigt sich

Scholz hat viele der Vorwürfe zurückgewiesen. Seit zehn Jahren sei die Firma von einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit gutem Ruf überprüft worden, sagte der SPD-Politiker am Sonntagabend im ZDF. Diese habe keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Seit Frühjahr 2019 habe es dann verschärfte Prüfungen gegeben. Ende letzten Jahres seien insgesamt drei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften aktiv gewesen, sagte Scholz zu Vorwürfen aus der Opposition, er habe zu spät gehandelt. "Weil wir zu denen zählen, die sich nicht wegducken, haben wir alles auf den Tisch gelegt", fügte Scholz mit Hinweis auf einen Bericht des Finanzministeriums an den Finanzausschuss des Bundestages hinzu. "Jeder muss in dieser Situation die Bereitschaft haben, alles aufzuklären, was notwendig ist."

Nicht gern sieht natürlich auch die Union, dass nun das Kanzleramt in der Wirecard-Affäre in den Blickpunkt gerät. Laut "Spiegel" hatte Kanzlerin Angela Merkel am 3. September 2019 mit dem früheren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) über die Pläne des Unternehmens, auf dem chinesischen Markt Fuß zu fassen, gesprochen. Guttenberg beriet Wirecard damals bei der Expansion nach China.

Gespräche in China

Kurz darauf flog Merkel nach Peking. Nach ihrer Rückkehr informierte Lars-Hendrik Röller, der Leiter der Abteilung für Wirtschafts-, Finanz- und Energiepolitik des Kanzleramts, Guttenberg per Mail, "dass das Thema bei dem Besuch in China zur Sprache gekommen und weitere Flankierung zugesagt" sei. Die Opposition will nun wissen, warum die Regierung ein Unternehmen promotete, gegen das ein Verdacht vorlag.

Vielleicht werden die Deutschen bald einen Film über die Causa sehen. Produzent Nico Hofmann will den Wirecard-Skandal verfilmen und sagt: "Der Fall Wirecard liefert nicht nur die Vorlage zu einem einzigartigen Wirtschaftskrimi, er ist auch ein Drama unter Königen; zwischen gerissener Kriminalität und Technologiegläubigkeit." (Birgit Baumann aus Berlin, APA, 20.7.2020)

Update, 20.7.2020, 16.00: Dieser Artikel wurde um die Stellungnahme des Kreml und um die Recherchen der APA bezüglich der russischen Tochterfirma ergänzt.

Update, 19.7.2020, 20 Uhr: Dieser Artikel wurde damit ergänzt, dass Marsalek in Russland vermutet wird.

Update 19.7.2020 um 23.18 Uhr: Scholz' Verteidigung im ZDF hinzugefügt.


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