Sitzkiste. Kuscheliges Wort. Stammt wie Meisterbock aus dem Ingenieurswortschatz und ist gottlob noch nicht inselsächsisch umgespracht. Wie sich an diesem Termin "beim Daimler" zeigte, im Allerheiligsten der Designabteilung, hat die Corona-Sache auch ihr Gutes. Wann ergibt es sich sonst schon einmal, exklusiv Hochtechnologie erläutert, vorgeführt zu bekommen, individuelle Fragestellungen inklusive.

Zuerst ging’s in die Dunkelkammer, dann ins Licht, in die tropfenförmige Sitzkiste eben, wobei die Form nicht der Aerodynamik gestundet war, sondern dem Umstand, dass von der S-Klasse erst manche Innenraum-, nämlich Bedienaspekte und ihre formale Darbietung, gezeigt werden durften.

Benutzererfahrung

MBUX also. Steht für Mercedes-Benz User Experience. Mit der S-Klasse, hieß es, "zünden wir jetzt die zweite Stufe". Raketenterminologie hat stets was Erhebendes an sich, obendrein trägt ja der Hersteller einen Stern als Markenzeichen, aber zunächst kurz Grundsätzliches. Im Normalfall wird teure neue Technologie von oben nach unten durchgereicht. Bis sie in der Masse ankommt, sind die Preise so weit überschaubar, dass das keine Lawine mehr kostet.

Nein, das ist nicht das Ei des Kolumbus, sondern nennt sich Sitzkiste und dient Interieur-Demozwecken.
Foto: Mercedes-Benz

Nun mag es sein, dass die Welt der Nullen und Einsen, die auch ganz oben immer größere Verbreitung findet, in mehrerlei Hinsicht billiger ist als einst etwa der Luftsack vulgo Airbag. Jedenfalls argumentierte Mercedes 2018 nachvollziehbar, MBUX starte in der A-Klasse, weil die Fahrzeugkategorie eine deutlich jüngere Klientel anspreche als eben das Flaggschiff S-Klasse – jene Generation, die mit wisch und zoom und weg groß geworden ist und sich die Welt anders kaum vorstellen kann.

"Warum nun aber doch so massiv in die S-Klasse?", frage ich in der Dunkelkammer, wo mir vor allem die Designaspekte des Bedienkonzepts an der Leinwand erläutert werden. Nun, weil die Welt sich weiterdreht, weil inzwischen so viel junge Kundschaft, Stichwort China, hinzukommt, die in ihrem Luxusgefährt diese Technologie keinesfalls missen möchte.

Was kommt hinsichtlich MBUX also auf die betuchte Klientel zu, wenn die neue S-Klasse im September debütiert? Unter anderem dies: Schon heute kann man via Mini-Pad am Volant einzelne Ansichten der Hauptinstrumente – Tuben genannt, weil früher Tacho und Drehzahlmesser so gestaltet waren – abrufen. Nun gesellt sich zu klassisch, Performance und einer puristischen Instrumentenanzeige der Meißen-Look hinzu. Heißt natürlich nicht so, sondern "exklusiv", aber es wirkt wie edles Porzellan. Nächtens wird sanft abgedimmt, damit die geneigte Fahrerin/der geneigte Fahrer nicht geblendet wird. Bleibt – exklusiv eben – der S-Klasse vorbehalten.

In der S-Klasse verlässt Mercedes die Breitbildschirmphilosophie zugunsten zweier Bedienfelder.
Foto: Mercedes-Benz

Bei all dem Streben treibt die Designer ein spezieller Ehrgeiz, den sie Pixel-Perfektion nennen, wobei es um höchstwertige visuelle Aufbereitung als Aspekt von modernem Luxus geht. Schönheit trifft simple Bedienung.

Ukiyo-e lässt grüßen

Die Rechte fällt übrigens nicht mehr auf einen Dreh-Drück-Knopf oder, wie in etlichen Benzen, auf ein von der Sichteinheit entkoppeltes Bedien-Pad. Vielmehr wird die Breitbildphilosophie verlassen zugunsten eines vom Hauptinstrumentenschirm getrenntes Mitteldisplays, das wie eine Welle aus der Wagenmitte auftaucht. Ukiyo-e lässt grüßen, wirkt wie ei ne gezähmte Große Welle von Hokusai. In der Studie "Vision EQS" hatte sich das schon abgezeichnet.

Eine der dort abrufbaren Funktionen ist eine 3D-Navigation, die Sache hat aber gegenüber den bisherigen Zugängen ergonomische Nachteile – man muss sich nach vorn beugen zur Tatschbedienung, zudem liegt die Bildinfo tiefer als beim Breitbildschirm. Kompensiert wird dies durch die nochmals verbesserte direkte Sprachführung, die nun auf allen Plätzen, auf denen sich wiederum große Bildschirme befinden, funktioniert. Überhaupt sind auch hinten alle MBUX-Funktion verfügbar.

Neu in der Instrumente-Stilauswahl ist die Version "Exclusive". Als wäre Meißner Porzellan an Bord.
Foto: Mercedes-Benz

Doch da bin ich längst physisch am und im Objekt, bin vorn und hinten in die Sitzkiste gestiegen, probe am Steuer die einzelnen Instrumentenstile durch. Mist, sie zeigen den Meißner noch nicht. Dafür den Performancestil – mit 3D-Effekt, fast wie im Videospiel.

Außerdem spielt das Navi künftig im HUD den sogenannten "fliegenden Pfeil" ein – ein bis drei in jene Richtung, in die es gehen soll, wandernde Pfeilsymbole.

Und über das, was Burmester an Klangwundern in die neue S-Klasse zaubert, dürfen wir noch nicht berichten. Damit raus aus der Sitzkiste, ab nach Hause. (Andreas Stockinger, 22.07.2020)