Im Gastkommentar regt Golli Marboe, ORF-Publikumsrat und langjähriger TV- und Filmproduzent, einen Neustart für ORF 1 an.

Vor Jahren wurde im ORF die Strategie ausgegeben, dass sich ORF 1 an ein junges, urbanes Publikum richten soll. Dazu kaufte man Lizenzen von US-Serien und jede Menge an Sportrechten. Man stellte sich bewusst der Konkurrenz der damaligen Privatsender. Dummerweise wirkt ORF 1 aber nun schon seit langem selbst wie ein Privatsender. Das Publikum fragt völlig zu Recht, wozu man dafür GIS-Gebühren zahlt.

Das weiß natürlich auch die ORF-Geschäftsführung. Aber es sieht fast so aus, als ob Alexander Wrabetz diesen Sender "opfert", um seine Chancen zu erhöhen, weiterhin Generaldirektor des ORF zu bleiben. Denn die Verantwortliche von ORF 1, Lisa Totzauer, gilt als Favoritin der in der ÖVP ja doch recht einflussreichen niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner für die zukünftige Leitung des ORF.

Machiavellistische Winkelzüge

Der für seine "machiavellistichen Winkelzüge" berühmte Wrabetz bot Totzauer – möglicherweise aus Kalkül – die Verantwortung für ORF 1 als Channelmanagerin an. Mit der offiziellen Zielsetzung, dem in die Jahre gekommenen Programm neuen Glanz zu verleihen. Gleichzeitig aber – und das passierte an Totzauer vorbei – pflasterte er die Sendeminuten weiterhin durch den Kauf von Sportrechten und internationalen Filmpaketen zu. So hat er es der Channelmanagerin nahezu verunmöglicht, nennenswert innovatives Programm zu produzieren, da kaum mehr Budget dafür vorhanden ist. Für das Publikum ist dementsprechend kaum eine Veränderung der Anmut von ORF 1 zu erkennen. Und selbst in ÖVP-Kreisen hört man nun, "dass die Lisa das wohl doch nicht könne".

Was aber könnten die Verantwortlichen in Politik und im ORF tatsächlich mit diesem "zu Tode reformierten" Sender tun? Sie könnten ORF 1 mit einer mitteleuropäischen Vision neu gründen! Wie gut stünde es dem ORF und damit auch der Republik Österreich an, wenn man ein Grenzen überschreitendes mitteleuropäisches Programm gründet! Einen Sender, der aus Dokus, Reportagen und mittelfristig auch aus fiktionalen Programmen besteht, die nicht aus Amerika kommen, sondern die Österreich und Mitteleuropa ins Zentrum der Berichterstattung rücken.

Hat kaum Budget für innovatives Programm: ORF-1-Channelmanagerin Lisa Totzauer.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Ein Programm, das Nachbarn zu einer Gemeinschaft werden lässt. Ein Programm, das Österreich auch von außen beleuchtet. Ein Programm, das dafür sorgt, dass Berichte – die nach westeuropäischen journalistischen Standards erarbeitet werden – trotzdem auch in Ungarn oder Serbien zu sehen sind. Ein Programm, das auch in Österreich Zuschauerkreise anspricht, die bisher vom ORF nur zum Teil erreicht werden (wie die vielen aus dem Balkan geflohenen und inzwischen heimischen Familien). Ein Programm, das die Gemeinsamkeiten der Region beschreibt. Ein Programm, das der Idee des erfolgreichsten aller ORF-Formate folgt, Bundesland heute – einfach ein bisschen größer, nämlich für 50 Millionen Mitteleuropäerinnen und -europäer. Ein Programm, das nicht nur in Deutsch, sondern gleichzeitig auch in albanisch, bosnisch, kroatisch, serbisch, slowakisch, slowenisch, tschechisch und ungarisch ausgestrahlt wird. Ein Programm, das damit nicht zuletzt auch dem regionalen Tourismus dient.

Weniger Sport

Vielleicht hat Totzauer Lust dazu, bietet Wrabetz die Stirn und formuliert eine europäische Vision: Ein Projekt zusammen mit den öffentlich-rechtlichen Sendern der Nachbarn; ein Projekt, das selbstredend auch als Onlineplattform stattfinden müsste. Ein Projekt, das nicht zuletzt dafür ein Beispiel wäre, wie sich Mitteleuropa in Zukunft als Medienstandort etablieren möchte. So wie das Frankreich ja schon immer und die skandinavischen Länder seit vielen Jahren tun.

Die heute schon attraktiven Eigenproduktionen von ORF 1, die finden ganz bestimmt auch dann ihr Publikum: Dok Eins, Willkommen Österreich oder das Kinderprogramm von Thomas Brezina werden auch vor gut 50 Millionen potenziellen Seherinnen und Sehern reüssieren. Und die vielen Sportübertragungen, die gehören in Zukunft auf ORF-Sport-Plus. (Golli Marboe, 21.7.2020)